21.12.2023

Newsletter Arbeitsrecht 4. Ausgabe 2023

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Editorial

Liebe Leserinnen und Leser,

Endspurt! Wir freuen uns nun alle auf ein fröhliches und besinnliches Weihnachtsfest. Rechtzeitig zu diesem können wir Ihnen – wie gewohnt – unseren Newsletter als Lektüre unter den Christbaum legen.

Die Weihnachtsausgabe unseres Newsletters befasst sich schwerpunktmäßig mit zwei aktuellen Themen. Die Praxis zeigt, dass in der gegenwärtigen Wirtschaftslage der Abschluss von Freiwilligenprogrammen einen besonderen Reiz bieten. Sie ermöglichen es Arbeitgebern, Personal einvernehmlich abzubauen, ohne dabei wertvolle Fachkräfte verlieren zu müssen. Allerdings gibt es auch beim Abschluss von Freiwilligenprogrammen rechtliche Hürden zu beachten. Prof. Dr. Robert von Steinau-Steinrück und Paula Sophie Kurth beleuchten in ihrem Beitrag die Themen, welche Arbeitgeber bei der Konzeption und Einführung von Freiwilligenprogrammen beachten müssen.

Das Thema ESG ist aktuell in aller Munde. Der Begriff ESG – Environmental, Social und (Corporate) Governance – prägt die Unternehmenspraxis. An den Themen Umweltschutz, sozialer Verantwortung und integrer Gremienarbeit kommen selbst kleinere Unternehmen heute nicht mehr vorbei. Während in der Praxis der Fokus häufig auf ökologischen Themen liegt, müssen mit Blick auf eine nachhaltige Geschäftsstrategie auch arbeitsrechtliche Aspekte berücksichtigt werden. Anlass für Paul Schreiner in seinem Beitrag einen Überblick über die sich in diesem Kontext stellenden arbeitsrechtlichen Fragen zu geben.

Ende 2022 entschied das BAG, dass Arbeitgeber durch ihr Weisungsrecht Arbeitnehmer grundsätzlich auch in ausländische Betriebe versetzen können. Dabei blieben jedoch diverse Folgefragen offen. Axel Braun und Stephan Sura widmen sich diesen in ihrem Beitrag.

Neben unseren Schwerpunktthemen erhalten Sie auch mit dieser Ausgabe den gewohnten Überblick über aktuelle Entscheidungen der Arbeitsgerichte, die aus unserer Sicht für die Personalarbeit von besonderer Relevanz sind. Auch in dieser Ausgabe präsentieren wir wieder unseren internationalen Newsflash aus Unyer. Xavier Drouin von FIDAL in Straßburg gibt einen Überblick über die Pflicht des Arbeitgebers zur Arbeitszeiterfassung nach französischem Recht.

Wir wünschen Ihnen eine friedliche und besinnliche Weihnachtszeit, geruhsame Tage zwischen den Jahren sowie ein glückliches, gesundes und erfolgreiches neues Jahr 2024.

Kommen Sie gut ins neue Jahr!

Ihr

Achim Braner

Freiwilligenprogramme – Ein Mittel zum Personalabbau in Zeiten des Fachkräftemangels

Wollen Arbeitgeber momentan Personal abbauen, befinden sie sich häufig in einem Dilemma: Einerseits sehen sie sich zur Senkung der Personalkosten gezwungen, andererseits können sie sich den Verlust wertvoller qualifizierter Arbeitskräfte aufgrund des ausgeprägten Fachkräftemangels in Deutschland nicht erlauben. Bei der Überwindung dieses Spagats kommen Freiwilligenprogramme wie gerufen. Der nachfolgende Beitrag untersucht, was es bei Freiwilligenprogrammen zu beachten gilt und wie sie konzipiert sein können.

I. Einleitung

Die deutsche Wirtschaft befindet sich erneut in einer Situation, in der sich viele Unternehmen zu erheblichen Einsparmaßnahmen verpflichtet sehen. So plant laut einer repräsentativen Umfrage des Münchner Ifo-Instituts im Auftrag der Stiftung Familienunternehmen von Ende 2022 ein Viertel der Unternehmen, wegen der finanziellen Belastungen durch die Energiekrise Stellen abzubauen. Gleichzeitig werden Fachkräfte am Arbeitsmarkt immer knapper. Es ist daher ein Problem, die aktuell so seltenen und wichtigen Fachkräfte infolge der Personalreduzierung zu verlieren. Nach Ende der Krise könnte das bedeuten, keine oder nur deutlich höher bezahlte Ersatz-Arbeitskräfte zu finden. Das übliche Instrument zum Personalabbau in wirtschaftlichen Krisenzeiten bilden betriebsbedingte Kündigungen. Die bei Beschreitung dieses Wegs zu beachtende Sozialauswahl könnte jedoch zu der momentan gerade ungewollten Situation führen, hoch qualifizierte Arbeitnehmer gehen lassen zu müssen, weil diese im Vergleich als sozial weniger schutzwürdig zu bewerten sind.

II. Die Vorzüge von Freiwilligenprogrammen

Aus diesem Grund sind Freiwilligenprogramme im Moment besonders reizvoll. Durch die Einführung von Freiwilligenprogrammen sollen die Arbeitnehmer regelmäßig zu einem freiwilligen Ausscheiden animiert werden. Umgesetzt wird dies in der Regel durch den eigentlichen Sozialplan, mitunter jedoch auch durch vorgelagerte Vereinbarungen. Als Anreizmittel für einen frühzeitigen Ausstieg aus dem Unternehmen werden dabei häufig sog. zeitlich gestufte Turboprämien oder sonstige Vergünstigungen eingesetzt (z. B. Outplacementhilfen). Nach mittlerweile gefestigter Rechtsprechung werden Freiwilligenprogramme seitens der Rechtsprechung als grundsätzlich zulässig beurteilt. Aufgepasst werden muss nur, dass die freiwillige Regelung nicht als Umgehung der Beschränkungen der mit einem Sozialplan intendierten Zwecke daherkommt (LAG München, Urteil vom 9. Dezember 2015 – 5 Sa 591/15). Verglichen mit betriebsbedingten Kündigungen bringen Freiwilligenprogramme den attraktiven Vorteil, dass Arbeitgeber hier grundsätzlich frei darin sind, den anspruchsberechtigten Teilnehmerkreis festzulegen. Auf diese Weise können sie also wie gewünscht trotz Personalabbau qualifizierte Mitarbeiter halten, ohne diese in die „risikoreiche“ Sozialauswahl miteinstellen zu müssen. Auch andere unliebsame Folgen von betriebsbedingten Kündigungen, insbesondere die mit dann möglichen Kündigungsschutzprozessen verbundenen Kosten und Unsicherheiten, können auf diese Weise vermieden werden.

III. Die Gestaltung von Freiwilligenprogrammen

Für Freiwilligenprogramme existieren verschiedene Gestaltungsoptionen, die ihrerseits miteinander kombiniert werden können. Es gibt unterschiedliche Möglichkeiten des Angebotsverfahrens:

  • Offenes Angebotsverfahren: Hierbei wird allen Arbeitnehmern das Angebot unterbreitet, durch einen Auflösungsvertrag freiwillig auszuscheiden. Dies empfiehlt sich jedoch für den aktuell gewünschten Zweck, fachlich besonders qualifizierte Arbeitnehmer beizubehalten, gerade nicht.
  • Eingeschränktes Angebotsverfahren: Durch festgelegte objektive Kriterien werden bestimmte Arbeitnehmer von dem Angebot zum freiwilligen Ausscheiden ausgenommen, etwa gestützt auf spezielle Qualifikationen oder Führungskräfte.
  • Auswählendes Angebotsverfahren: Die Arbeitgeberin oder der Arbeitgeber treffen hier objektiv begründbare Bereiche, Abteilungen oder Funktionen begrenzte Vorauswahl und bietet nur den hiervon erfassten Arbeitnehmern die Auflösungsvereinbarung an.

Verbunden werden kann damit jeweils ein für die Praxis empfohlenes Verfahren mit doppelter Freiwilligkeit. Dies ist dadurch charakterisiert, dass ein Freiwilligkeitsvorbehalt nicht nur auf Arbeitnehmerseite vereinbart wird, sondern dass sich auch die Arbeitgeberin bzw. der Arbeitgeber noch ohne Begründungsverpflichtung für den konkreten Einzelfall vorbehalten, sich doch gegen den Abschluss einer Auflösungsvereinbarung zu entscheiden.

IV. Typische praktische Problemfelder und Lösungsansätze

Teil der vom LAG München in seinem oben genannten Urteil geforderten Einhaltung der mit einem Sozialplan intendierten Zwecke ist es aber auch, den Gleichbehandlungsgrundsatz und die Diskriminierungsverbote zu beachten. Auch dies ist also im Rahmen von Freiwilligenprogrammen Pflicht. Daher darf der Ausschluss bestimmter Arbeitnehmer im Rahmen des eingeschränkten und auswählenden Angebotsverfahrens nicht willkürlich erfolgen. Es sollten außerdem alle anspruchsberechtigten Arbeitnehmern gleiche Zugangschancen erhalten. Daher sollten sie gleichzeitig über das Angebot informiert werden und über die gleichen (technischen) Mittel zur Teilnahme verfügen können. Auch sollte die Bewerbungsfrist nicht zu kurz bemessen werden. Empfehlenswert ist es dennoch, die Freiwilligenprogramme zeitlich zu limitieren, um als Arbeitgeber nicht nach langem Zeitablauf noch unerwartet mit dem Ausstieg von fest eingeplanten Arbeitnehmern konfrontiert zu sein. Gibt es einen Betriebsrat, so wird diesen in aller Regel ein Mitbestimmungsrecht bei der Ausgestaltung der Freiwilligenprogramme treffen, denn dieses könnte sich aus den
§§ 111, 112 BGB analog, § 87 Abs.1 Nr. 10 oder § 95 Abs. 1 BetrVG ergeben. Gemeinsam gefundene Auswahlkriterien sowie der genaue Ablauf des Verfahrens sollten daher mit dem Betriebsrat überlegt und (schriftlich) festgehalten werden. Eine schriftliche Dokumentation des Verfahrens empfiehlt sich im Übrigen auch bei individualrechtlichen Freiwilligenprogrammen. Einseitig durchgeführte Freiwilligenprogramme bergen das Risiko, dass der Betriebsrat hiergegen im Wege einer einstweiligen Verfügung vorgehen könnte. Es sollten daher die Chancen einer Zusammenarbeit mit dem Betriebsrat genutzt werden. Sie können darin liegen, dass ein gemeinsamer Weg für das Freiwilligenprogramm die betriebliche Akzeptanz und Bereitschaft zur Wahrnehmung des Angebots steigern kann.

Unbedingt berücksichtigt werden muss aber, dass bei Erreichen der Schwellenwerte des § 17 KSchG und bei entsprechend häufig abgeschlossenen Aufhebungsverträgen im Rahmen eines Freiwilligenprogramms eine Massenentlassungsanzeige an die Agentur für Arbeit notwendig ist. Laut BAG sind arbeitgeberseitig veranlasste Aufhebungsverträge binnen 30 Tagen nämlich nach § 17 KSchG anzeigepflichtig (BAG, Urteil vom 11. März 1999 – 2 AZR 461/98). Auch das Konsultationsverfahren gegenüber dem Betriebsrat muss dann ordnungsgemäß durchgeführt werden, damit die Aufhebungsverträge nicht unwirksam sind. In der Praxis ist Arbeitgebern deshalb zu raten, bereits vorsorglich eine Massenentlassungsanzeige zu erstatten, sobald das Freiwilligen-­
programm auch nur potentiell zu einer Erreichung der Schwellenwerte führen kann. Gleiches gilt für das Konsultationsverfahren. Die dann konkret das Angebot des Aufhebungsvertrags annehmenden Arbeitnehmer müssen dann nachgemeldet werden.

V. Fazit

Im Moment bieten Freiwilligenprogramme einen besonderen Reiz, da mit ihrer Hilfe Personal abgebaut werden kann, ohne dabei wertvolle Fachkräfte verlieren zu müssen. Trotzdem sind auch bei diesem Instrument rechtliche Hürden zu beachten.

Autoren
Prof. Dr. Robert von Steinau-Steinrück
Paula Sophie Kurth

ESG und Arbeitsrecht

Der Begriff ESG – Environmental, Social und (Corporate) Governance – prägt aktuell den Umgang damit, wie Unternehmen ihr Bewusstsein für Nachhaltigkeit vermitteln wollen. Während der Fokus meist auf ökologischen Themen liegt, kann und muss sich eine nachhaltige Geschäftsstrategie auch in der Basis jedes Unternehmens niederschlagen: in seinen Arbeitsverhältnissen.

I. Hintergrund

Es ist etwas über zehn Jahre her, da hielt das Leitmotiv Corporate Social Responsibilty (CSR) Einzug in das Selbstverständnis und in die Außendarstellung nicht nur von größeren Unternehmen. Bereits Anfang des Jahrtausends definierte die Europäische Kommission den Begriff als Konzept, das als Grundlage dient, auf freiwilliger Basis soziale Belange und Umweltanforderungen in die Geschäftstätigkeit zu integrieren. Die Kernideen von CSR führten schließlich auf europäischer Ebene zur Richtlinie 2014/95/EU, die in Deutschland im Jahr 2017 größtenteils in das HGB implementiert wurden; seitdem sind bestimmte große Unternehmen dazu verpflichtet, in ihrem Lagebericht eine nichtfinanzielle Erklärung über Konzepte, Ergebnisse, Risiken und wesentliche Leistungsindikatoren zu Umwelt-, Arbeitnehmer- und Sozialbelangen, zur Achtung der Menschenrechte und zur Bekämpfung von Korruption und Bestechung abzugeben. Durch die Nachhaltigkeitsberichterstattungsrichtlinie (EU) 2022/2464 wird der Anwendungsbereich dieser Pflicht ab 2024 noch erweitert.

Das durch die Inhalte von CSR stärker gewordene Bewusstsein gerade für Umwelt- und Menschenrechtsthemen manifestierte sich in der Folge auch in anderen Spezialgesetzen, zuletzt im seit Anfang des Jahres geltenden Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz. Betrachtet man Werbung und Websites von Unternehmen heute, fällt indes auf, dass ein neuer Terminus zur Erläuterung des unternehmerischen Selbstverständnisses die Oberhand gewonnen hat: ESG.

II. ESG und seine Inhalte

Sei es aus Reputationsgründen, sei es aus tatsächlicher strategischer Ausrichtung, an den Themen Umweltschutz, sozialer Verantwortung und integrer Gremienarbeit kommen heute selbst kleine Arbeitgeber nicht mehr vorbei, weil das öffentliche Bewusstsein für Probleme in diesen Bereichen in den vergangenen Jahren sukzessive gewachsen ist. Konkrete Schritte von Unternehmen zeigen sich dabei fast ausschließlich im „E“ des Begriffs, also in Umweltaspekten; oft wird der Ausdruck ESG gar so verstanden, dass sich die ökologische Nachhaltigkeit auch in sozialen Inhalten und der Unternehmensordnung vergegenständlichen muss, etwa in ökologischen Initiativen im Betrieb, bei denen Belegschaft und Betriebsrat miteinbezogen werden.

Versteht man ökologische, soziale und strukturelle Nachhaltigkeitsthemen jedoch differenziert, offenbart sich, dass beschäftigungsbezogene Themen oft „nur“ auf fundamentale Basisinhalte zielen, etwa die Vermeidung von Kinderarbeit oder die Einhaltung anderer Menschenrechte in der Produktionskette; auch die 2011 neu gefassten OECD-Leitsätze für multinationale Unternehmen statuieren in diesem Zusammenhang einen Katalog von allgemeinen Grundrechten, die nicht unbedingt in die Details sozialer Fürsorge oder organisatorischer Rechtseinhaltung dringen. Schon die in der CSR-Richtlinie aufgeführten und somit auch ins deutsche Recht umgesetzten Maßgaben umfassen gleichwohl auch Arbeitnehmerbelange vor Ort, sodass folgerichtig gefragt werden muss, wie sich Nachhaltigkeit in den individuellen Kerninhalten der Arbeitsverhältnisse (in Deutschland) und kollektiv arbeitsrechtlich manifestiert – und nicht nur dadurch, dass Gesetze, arbeitsrechtliche Standards oder Pflichten zum Arbeits- und Gesundheitsschutz bloß befolgt werden. Soziale und unternehmenspolitische Nachhaltigkeit zeigt sich letztlich in einer zufriedenen und motivierten Belegschaft, was die Basis für jeden Unternehmenserfolg bildet.

III. Entgelt

In der Vergütung von Arbeitnehmern liegt die Hauptleistungspflicht des Arbeitgebers. Eine nachhaltige Vergütungsstrategie beschränkt sich in diesem Kontext nicht nur auf die bloße Bezahlung nach Gesetz, Tarifvertrag oder individueller Abrede, vielmehr spielt eine ausgewogene Gesamtentgeltstruktur eine tragende Rolle als Anreizsystem. Gerade hier zeigt sich das Bewusstsein für eine soziale Unternehmensführung, die sich grob in zwei Handlungsweisen ausprägt: Einer fairen Bezahlung, die am Unternehmenserfolg ausgerichtet und im Hinblick auf die Gesamtbelegschaft ausbalanciert ist, und in Form der Vermeidung von Diskriminierungen.

Eine faire Entlohnung geschieht dabei nicht nur durch die Einhaltung von Entgeltbestimmungen im Gesetz oder (Tarif-)Vertrag, sondern auch durch die Beteiligung der Beschäftigten am Fortkommen des Unternehmens. So dienen variable Vergütungsbestandteile, die zum Beispiel durch Zielvereinbarungen in das Beschäftigungsverhältnis Einzug halten, durch ihre Kopplung an das Erreichen von persönlichen und geschäftlichen Zielen der Motivation des Mitarbeiters, kurz-, mittel- oder langfristig einen bestimmten Erfolg zu erzielen. Geschieht dies etwa durch die Gewährung von Aktienoptionen oder ähnlichen Elementen, kann dadurch ferner eine dauerhafte Identifikation mit dem Arbeitgeber animiert werden. Gerade hier kann sich Nachhaltigkeit manifestieren, indem Kompetenz und Motivation über den regulären Arbeitsalltag hinaus belohnt wird. Korrespondierend zu den grundlegenden Vergütungspflichten des Arbeitgebers können darüber hinaus Instrumente wie flexible Arbeitszeiten, Weiterbildungsangebote oder die Ermöglichung von Global Mobility-Modellen helfen, kompetente Mitarbeiter zu binden und anzuspornen. Ein Grundvertrauen in das Arbeitsverhältnis bewirken daneben banal wirkende Aspekte wie der seriöse Umgang mit Erkrankungen oder Familienplanung.

Diskriminierungen – auch und gerade im Entgeltbereich – werden grundsätzlich bereits ausreichend durch gesetzliche Sanktionen adressiert. Beim Thema Vergütung spielten in den letzten Jahren die gesetzgeberischen Initiativen zur Entgeltgleichheit zwischen Mann und Frau eine Hauptrolle, insbesondere in Form des Entgelttransparenzgesetzes. Durch eine aktuelle Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts (BAG vom 16. Februar 2023 – 8 AZR 450/21) bewegt sich dieser Themenbereich nunmehr in eine neue  Richtung: divergierende Qualifikationen sollen nunmehr zum wesentlichen Aspekt der Gehaltsfestsetzung werden. In der Sache ist dies begrüßenswert, denn ein schlüssiges Gehaltssystem fördert Mitarbeiterzufriedenheit und damit –bindung. Problematisch ist allerdings, dass die inhaltlichen Anforderungen, die diese Entscheidung für den Arbeitgeber mit sich bringt, so schwer zu erfüllen sind, dass es fraglich erscheint, ob ausdifferenzierte Gehaltssysteme rechtssicher gestaltet werden können. Gelingt dies nicht, so wird der gegenteilige Effekt erreicht, denn die Gleichbehandlung von unterschiedlichen Sachverhalten ist ebenso diskriminierend wie die Ungleichbehandlung von gleichen Sachverhalten.

IV. Betriebliche Mitbestimmung

Im kollektiven Arbeitsrecht begegnet man CSR- und ESG-Aspekten oft nur rudimentär, etwa in Bezug auf die Tätigkeitsfreiheit von Gewerkschaften – was eher in anderen Ländern ein Problem darstellt. Auf Ebene der betrieblichen Mitbestimmung ist zunächst festzuhalten, dass es keine Mitbestimmungsrechte des Betriebsrats hinsichtlich unternehmenspolitischer oder strategischer Entscheidungen gibt; so ist etwa auch die unternehmerische Entscheidung, ob eine Betriebsänderung (ggfs. mit Entlassungen) stattfindet, mitbestimmungsfrei. Die regelmäßig vorliegenden Beteiligungsrechte des Wirtschaftsausschusses erschöpfen sich in Unterrichtungs- und Beratungsrechten.

Die Einbindung von Betriebsräten erfolgt unterdessen bereits grundlegend durch ihre betriebsverfassungsrechtliche Pflicht, die Einhaltung von Gesetzen, Schutzvorschriften und bspw. auch Tarifverträgen zu überwachen. Durch dieses Überwachungsrecht und die damit zusammenhängenden Unterlassungsansprüche gegen den Arbeitgeber werden Betriebsräte originär in den Großteil der Vorgänge miteinbezogen, die für soziale Nachhaltigkeit wesentlich sind. Eine gesunde Interaktion mit dem Betriebsrat stärkt an dieser Stelle das Vertrauen in das Unternehmen – wobei hierzu freilich immer zwei Seiten gehören. Betrachtet man konkrete Mitbestimmungstatbestände, können konstruktive Verhandlungen beispielsweise über Verhaltensregeln, den Umgang mit Verstößen oder den Gesundheits- und Arbeitsschutz von einer nachhaltigen und kompetenten Unternehmensführung in sozialen Fragen zeugen; herauszuheben ist zudem die Entgeltmitbestimmung des Betriebsrats bei Fragen der betrieblichen Lohngestaltung. Auch freiwillige Betriebsvereinbarungen abseits der erzwingbaren Mitbestimmung können in bestimmten Themenbereichen soziale Verantwortung demonstrieren. Ein dafür in jüngerer Vergangenheit oft diskutierter Gegenstand sind Betriebsvereinbarungen mit Affirmative Action-Inhalten, also positiven Diskriminierungsmaßnahmen, etwa zur Schaffung einer personellen und kulturellen Vielfalt im Unternehmen. So sehr derartige Maßnahmen reputations- und innovationsfördernd sein können, so sehr sollten sie vorher geprüft werden, da die rechtliche Zulässigkeit solcher Maßnahmen im Einzelnen umstritten ist. 

V. Fazit

Versucht man den auch auf internationaler Ebene schillernden Begriff ESG aus dem nationalen arbeitsrechtlichen Blickwinkel mit Leben zu füllen, so muss man feststellen, dass im Unterschied zu anderen Ländern zentrale Inhalte bereits durch die geltenden Gesetze „abgearbeitet“ sind. Daraus zu folgern, dass kein weiterer Handlungsbedarf besteht, er-scheint demgegenüber verfrüht. Zur Kenntnis nehmen muss man allerdings, dass der bloße Hinweis auf „ESG-Grundsätze“ die Rechtsordnung nicht suspendiert und daher solche Maßnahmen, die der Förderung und damit Bevorzugung einzelner Gruppen gelten, in der Regel gesondert zu rechtfertigen sind.

Autor
Paul Schreiner

Die Versetzung von Arbeitnehmern ins Ausland

Ende 2022 entschied das BAG, dass Arbeitgeber durch ihr Weisungsrecht Arbeitnehmer grundsätzlich auch in ausländische Betriebe versetzen können. Dabei blieben jedoch diverse Folgefragen offen.

I. Das Versetzungsrecht des Arbeitgebers

Die im Arbeitsvertrag meist nur rahmenmäßig geregelten Arbeitsbedingungen werden durch das Weisungsrecht des Arbeitgebers konkretisiert. Dieses hat seine Grundlage in § 106 Satz 1 GewO, wonach der Arbeitgeber berechtigt ist, Inhalt, Ort und Zeit der Arbeitsleistung nach billigem Ermessen näher zu bestimmen, soweit die jeweiligen Beschäftigungsinhalte nicht bereits arbeits- oder tarifvertraglich, in einer Betriebsvereinbarung oder durch gesetzliche Vorschriften festgelegt sind. In Bezug auf den Arbeitsort enthalten fast alle Arbeitsverträge Versetzungsklauseln, die das Direktionsrecht insoweit ausgestalten, als dass der Arbeitgeber einen Arbeitnehmer innerhalb des Betriebs oder in andere Betriebe innerhalb des Unternehmens versetzen kann.

Derartige Klauseln müssen einer Inhaltskontrolle nach den ­
§§ 307 ff. BGB standhalten. Materiell muss eine Klausel vor allem gewährleisten, dass die Tätigkeit am neuen Arbeitsort inhaltlich gleichwertig ist. Ferner muss sie dem Transparenzgebot gem. § 307 Abs. 1 Satz 2 BGB genügen und deshalb insbesondere ausdrücken, dass eine Versetzung nur unter Berücksichtigung der Interessen des Arbeitnehmers erfolgt. Darüber hinaus unterliegt die konkrete Versetzung einer Ausübungskontrolle. Hierbei muss der Arbeitgeber die wesentlichen Umstände des Einzelfalls abwägen und die beiderseitigen Interessen berücksichtigen, d. h. auf Arbeitnehmerseite z. B. familiäre Belange, auf Unternehmensseite betriebliche Gründe. Permanente Versetzungen bedürfen ferner der Zustimmung des Betriebsrats nach § 99 Abs. 1 BetrVG.

II. Das Urteil des BAG vom 30. November 2022

Ende November 2022 entschied das BAG erstmals über die Zulässigkeit einer Versetzung in einen ausländischen Betrieb (BAG, Urt. v. 30. November 2022 – 5 AZR 336/21). Kläger war ein Pilot bei einer irischen Airline, die europaweit sog. Home Bases unterhält. Laut Arbeitsvertrag war der Betroffene „hauptsächlich“ am Flughafen Nürnberg stationiert, konnte jedoch auch an andere Unternehmensstandorte versetzt werden. Nachdem die Arbeitgeberin beschloss, die Home Base Nürnberg stillzulegen, und das Arbeitsverhältnis auf die Beklagte überging, eine maltesische Fluggesellschaft, wurde der Kläger an den Flughafen Bologna versetzt. Er verlangte daraufhin die Feststellung, dass das Weisungsrecht der Beklagten eine Versetzung ins Ausland nicht umfasse und diese unbillig sei, weil ihm dadurch u. a. sein tariflicher Vergütungsanspruch entzogen werde. ArbG und LAG wiesen die Klage ab.

Das BAG entschied ebenso und stellte fest, dass die Versetzung vom Direktionsrecht der Beklagten gedeckt sei. Dieses beschränke sich nicht auf die Bundesrepublik, weil der Arbeitsort des Klägers nicht absolut festgelegt worden sei. In seinem Arbeitsvertrag sei explizit eine unternehmensweite Stationierungsmöglichkeit vereinbart worden, die auch im Ausland liegen könne. Die Versetzung selbst habe auch billigem Ermessen entsprochen, insbesondere, da sie auf einer unternehmerischen Entscheidung beruhte. Dass der Kläger seinen tariflichen Entgeltanspruch verliert, sei irrelevant, da dies Folge des Geltungsbereichs des Tarifvertrages sei, was auch bei einer Versetzung im Inland geschehen könne. Sonstige Nachteile seien i.Ü. in Kauf zu nehmen, da ein Pilot bei einer internationalen Fluggesellschaft damit rechnen müsse, auch im Ausland stationiert zu werden.

III. Konsequenzen

Aus dem Urteil scheint sich primär zu ergeben, dass Arbeitgeber auch Versetzungen ins Ausland vornehmen können, sofern der Arbeitsort zuvor nicht auf inländische Betriebsstätten konkretisiert wurde. Ob dies im Einzelfall wirklich so ist, entscheidet sich gleichwohl durch die Ausübungskontrolle, in die ggfs. weitere Gesichtspunkte einfließen.

1. Entgelt

Der Hauptaspekt betrifft in diesem Kontext die Gehaltssituation des Arbeitnehmers, wobei der Wegfall eines Tarifentgelts laut BAG gerade keine Bedeutung für die Billigkeit der Versetzung hat. Auch Unterschiede im regulären Entgeltniveau zwischen In- und Ausland führen nicht per se zu einer Unbilligkeit der Versetzung, da der Arbeitnehmer auch im Ausland zumindest den Anspruch auf seine arbeitsvertraglich garantierte Vergütung behält. Entstehen tatsächlich finanzielle Nachteile, ist zu berücksichtigen, ob diese ggfs. durch einen (Tarif-)Sozialplan ausgeglichen werden, sofern die Maßnahme Teil einer unternehmerischen Entscheidung ist. Nur bei Versetzungen in Länder, in denen die Lebenserhaltungskosten deutlich höher sind, können Ausgleichsleistungen des Arbeitgebers angezeigt sein.

2. Ausscheiden aus KSchG und BetrVG

Einen wesentlichen Einschnitt bildet hingegen, dass im Ausland das KSchG keine Anwendung mehr findet, weil dieses an sich nur Betriebe in Deutschland erfasst. Das BAG äußerte sich hierzu in seinem Urteil nicht näher und scheint somit darin keinen so signifikanten Rechtsverlust zu sehen, dass eine Unbilligkeit der Versetzung folgt. In diesem Zusammenhang ließ der für das Kündigungsrecht zuständige 2. Senat des BAG einst offen, ob eine Erweiterung des Kündigungsschutzes infrage kommt, wenn eine Versetzungsklausel auch die Zuweisung eines Arbeitsplatzes in einem ausländischen Betrieb ermöglicht oder wenn die Arbeitsverhältnisse der im ausländischen Betrieb tätigen Arbeitnehmer – etwa aufgrund einer Rechtswahl – deutschem (Kündigungs-)Recht unterliegen (BAG, Urteil vom 29. August 2013 – 2 AZR 809/12). Zumindest in der ersten Variante scheidet eine Erstreckung aber nun eindeutig aus. Im Rahmen von betriebsbedingten Kündigungen und Sozialauswahl scheitert eine Erweiterung zudem an der Betriebsbezogenheit der Sozialauswahl.

Durch eine permanente Versetzung ins Ausland fällt ein Arbeitnehmer des Weiteren aus dem BetrVG, für das (ebenfalls) das Territorialitätsprinzip gilt. Eine Ausstrahlung des Gesetzes wird in aller Regel zu verneinen sein. Im Hinblick auf den Verlust von Rechten stellt primär der Wegfall des Anhörungsrechts des Betriebsrats gem. § 102 BetrVG ein „Minus“ für den Arbeitnehmer dar. Hier kann unterdessen nichts anderes gelten als beim Kündigungsschutz.

3. Sozialversicherung / Sonstige Nachteile

Wird ein Arbeitnehmer dauerhaft im Ausland tätig, unterliegt er dem dortigen Sozialversicherungsrecht. Mangels befristeter Entsendung kommt eine fortwährende Anwendung des heimischen Sozialversicherungsstatus nicht in Betracht, ebenso wenig wie eine Ausstrahlung nach § 4 SGB IV. Hier kann sich im Rahmen der Interessenabwägung eine Pflicht des Arbeitgebers ergeben, Nachteile des Beschäftigten in seinem Versicherungsstatus auszugleichen, etwa durch eine private Kranken-/Unfallversicherung oder den Antrag auf ein Versicherungsverhältnis in der Arbeitslosenversicherung nach § 28a Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB III. Auch Steuerausgleichsregelungen können angezeigt sein.

Zuletzt kann es Nebenaspekte geben, hinsichtlich derer ein Arbeitgeber Ausgleichsleistungen gewähren muss, etwa hinsichtlich der Übernahme der Kosten für den Umzug oder für Sprachkurse, ggfs. auch für Familienmitglieder; entscheidend sind hier die Umstände des Einzelfalls. Abzuwägen ist überdies der Zeitpunkt der Versetzung, bei der betriebliche Belange einer möglichen Schulpflicht von Kindern gegenüberstehen. Allgemein dürfte gelten: Je mehr Aufwand und Zeit notwendige Anpassungen verlangen, desto eher sind diese in einer Interessenabwägung zu berücksichtigen.

IV. Fazit

Das Urteil des BAG zur Versetzung von Arbeitnehmern ins Ausland definiert klar die Voraussetzungen für eine solche. Inwieweit in die bei jeder Versetzung vorzunehmende Interessenabwägung Rechtsverluste und Nachteile eines Betroffenen miteinzubeziehen sind, hat das BAG derweil nur in Bezug auf Entgeltfragen erörtert. Gerade bei Einzelmaßnahmen können auch andere Faktoren die Billigkeit der Versetzung beeinflussen, die somit stets umfassend geprüft werden müssen.

Autoren
Axel Braun
Stephan Sura

Unterrichtung an Behörden über Massenentlassung vermittelt keinen Individualschutz

Aus Art. 2 Abs. 3 Unterabs. 2 der Massenentlassungsrichtlinie 98/59/EG, der die Übermittlung einer Abschrift der Unterrichtung des Betriebsrats zur beabsichtigten Massenentlassung an die zuständige Behörde vorsieht, folgt für den von einer Massenentlassung betroffenen Mitarbeiter kein individualschützender Charakter.

EuGH, Urteil vom 13.7.2023 – C-134/22 (G GmbH)

Der Fall

Im Jahr 2019 wurde das Insolvenzverfahren über das Vermögen der G-GmbH eröffnet. Der beklagte Insolvenzverwalter entschied, bis spätestens 30. April 2020 die Geschäftstätigkeit der G-GmbH vollständig einzustellen. Der Kläger war seit 1981 bei dieser beschäftigt. Der Betriebsrat wurde in seiner Funktion als Arbeitnehmervertreter bezüglich der beabsichtigten Massenentlassung gemäß § 17 Abs. 2 KSchG konsultiert. Der zuständigen Agentur für Arbeit wurde indes keine Abschrift dieser schriftlichen Mitteilung an den Betriebsrat zugeleitet. Schließlich erfolgte gegenüber der zuständigen Agentur für Arbeit eine Anzeige der beabsichtigten Massenentlassung im Einklang mit dem Kündigungsschutzgesetz und Art. 3 RL 98/59/EG. Dem Kläger wurde danach die Kündigung zum 30. April 2020 ausgesprochen. Der Kläger erhob Kündigungsschutzklage und argumentierte, die Kündigung sei aufgrund eines Verstoßes gegen § 17 Abs. 3 Satz 1 KSchG, mit dem Art. 2 Unterabs. 2 RL 98/59/EG in nationales Recht umgesetzt wurde, unwirksam. Die Klage blieb sowohl vor dem Arbeitsgericht und auch in zweiter Instanz erfolglos. Das BAG legte dem EuGH die Frage zur Vorabentscheidung vor.

Die Entscheidung

Der EuGH lehnte den Individualschutz der von Massenentlassungen betroffenen Arbeitnehmer durch Art. 2 Abs. 3 Unterabs. 2 RL 98/59/EG ab. Nach Ansicht des Gerichts verfolge die Verpflichtung des Arbeitgebers, der zuständigen Behörde eine Abschrift zumindest der in Art. 2 Abs. 3 Unterabs. 2 Buchst. b Nr. i-v genannten Bestandteile der schriftlichen Mitteilung zu übermitteln, nicht den Zweck, den von einer Massenentlassung betroffenen Arbeitnehmern Individualschutz zu gewähren. Zu dieser Rechtsauffassung gelangte der EuGH durch Auslegung der Unionsvorschrift, wobei der Gerichtshof den Wortlaut, Systematik, Ziele und Regelungszweck sowie die Entstehungsgeschichte berücksichtigte. Der Wortlaut selbst ließ keinen Zweck der in dieser Bestimmung vorgesehenen Übermittlungspflicht erkennen. Anhand der Systematik zeige sich, dass die Informationsübermittlung noch zu einem Zeitpunkt erfolgt, in dem Massenentlassungen lediglich „beabsichtigt“ seien. Ziel und Regelungszweck der Informationsübermittlung sei es, die zuständige Behörde in eine Position zu bringen, die negativen Folgen beabsichtigter Massenentlassungen soweit wie möglich abzuschätzen, um später angezeigten Entlassungen und dadurch entstehenden Problemen mit möglichst passgenauen Maßnahmen begegnen zu können. Daraus ergebe sich indes ein kollektiver und kein individueller Schutz der Arbeitnehmer. Auch die Entstehungsgeschichte der Regelungen, wonach eine solche Informationsmitteilung für notwendig angesehen wurde, um der zuständigen Behörde frühzeitig die Möglichkeit der Vorbereitung erforderlicher Maßnahmen einzuräumen, stütze dies.

Unser Kommentar

Mit seiner Vorabentscheidung stellte der EuGH nunmehr klar, dass § 17 Abs. 3 Satz 1 KSchG mangels Individualschutzes kein Schutzgesetz i.S.d. § 134 BGB darstellt. Damit folgt aus dem Unterlassen der Übermittlung einer Abschrift der Mitteilung an den Betriebsrat an die Agentur für Arbeit nicht die Unwirksamkeit der nachfolgend erklärten Kündigung. Wie sich die Entscheidung des Gerichtshofs auf die bisherige Rechtsprechung des BAG hinsichtlich anderer Fehler im Massenentlassungsverfahren auswirkt, bleibt abzuwarten. In den vergangenen Jahren hat sich die Rechtsprechung des EuGH und des BAG zur Frage der Anforderungen an die Wirksamkeit von Massenentlassungsanzeigen stetig fortentwickelt und erheblich verschärft. Zahlreiche Entscheidungen des Sechsten und des Zweiten BAG-Senats in den letzten Jahren haben die besondere Aufmerksamkeit der beratenden Praxis auf das Thema Massenentlassung gelenkt. Schon kleine Fehler können die Unwirksamkeit der ausgesprochenen Kündigungen nach sich ziehen, so dass das Thema für die Praxis von höchster Relevanz ist. Nun deutet sich an, dass die Entscheidung des EuGH eine Zeitenwende beim BAG einleiten könnte. Nach der Entscheidung des EuGH hat der 6. Senat des BAG u.a. den dem Verfahren vor dem EuGH zu Grunde liegenden Rechtsstreit vor dem BAG ausgesetzt und in einem Parallelverfahren mitgeteilt, dass er beabsichtige, seine Rechtsprechung, dass eine im Rahmen einer Massenentlassung ausgesprochene Kündigung wegen Verstoßes gegen ein gesetzliches Verbot iSv. § 134 BGB unwirksam ist, wenn im Zeitpunkt ihrer Erklärung keine oder eine fehlerhafte Anzeige nach § 17 Abs. 1, Abs. 3 KSchG vorliegt, aufzugeben. Da hierin eine entscheidungserhebliche Abweichung zur Rechtsprechung des 2. Senates des BAG liegt, hat der 6. Senat nunmehr beim 2. Senat angefragt, ob der 2. Senat weiterhin an seiner Rechtsauffassung festhält. Wäre dies der Fall, so müsste der Große Senat des BAG eine Entscheidung in dieser Divergenzfrage treffen. Ob es zu einem Richtungswechsel in der Rechtsprechung des BAG kommt und sich damit die Risken für Arbeitgeber im Zusammenhang mit Massenentlassungen reduzieren, werden wir erst in einigen Monaten erfahren. Es wäre sehr zu begrüßen, wenn in einzelnen Fällen eine im Vergleich zur Unwirksamkeit der Massenentlassungsanzeige schwächere Rechtsfolge als angemessen und zweckmäßig erachtet würde. Das Thema Massenentlassung wird Arbeitgeber in jedem Fall auch in Zukunft noch vor Herausforderungen stellen.

Autoren
Achim Braner
Nadine Ceruti

Schicksal endgehaltsbezogener Versorgungszusagen nach Betriebsübergang

Endgehaltsbezogene Zusagen, d. h. solche, bei denen sich die Höhe der späteren Versorgungsleistungen nach dem zuletzt bezogenen Bruttogehalt richten, werden nicht auf dem bei Betriebsübergang erreichten Lohnniveau „eingefroren“, sondern wachsen u.U. auch nach dem Betriebsübergang weiter an.

BAG, Urteil vom 9.5.2023 – 3 AZR 174/22

Der Fall

Die Parteien streiten über die Höhe von Leistungen der betrieblichen Altersversorgung. Der klagende Arbeitnehmer war seit 1988 bei der Beklagten bzw. deren Rechtsvorgängerinnen beschäftigt. Im April 1990 erhielt er eine Versorgungszusage. Grundlage für die Berechnung der monatlich zu zahlenden Altersrente war das „zuletzt bezogene Bruttomonatsgehalt“. Sonderzahlungen sollten bei der Bestimmung des anrechenbaren Arbeitseinkommens unberücksichtigt bleiben. Im Jahr 1991 wurde die Versorgungszusage um eine Weihnachtszuwendung („Rentnerweihnachtsgeld“) in Form einer 13. Monatsrente erweitert. Der Kläger erhielt bis 1998 ein 13. Monatsgehalt, das ab 1999 anteilig auf die zwölf Bruttmonatsgehälter umgelegt wurde. Ab dem Jahr 2011 erhöhte sich das monatliche Einkommen des Klägers zudem durch eine Bonusumwandlung (sog. Bonusswap). Diese Erhöhungen sollten bei der Ermittlung der Höhe der Versorgungsleistungen außer Betracht bleiben (sog. Schattengehalt).

Im Jahr 2017 ging das Arbeitsverhältnis des Klägers im Wege des Betriebsübergangs auf die Beklagte über. Aus Anlass des Betriebsübergangs vereinbarten die Beklagte und die Vorarbeitgeberin, dass die bisherige Vergütungsstruktur in das bei der Beklagten bestehende System überführt werden sollte. Im Zuge des Betriebsübergangs schlossen die Beklagte und der Kläger zudem einen neuen Arbeitsvertrag, der als Ausgleich für die nach dem System der Beklagten nicht mehr gewährten Sonderzahlungen ein höheres monatliches Bruttogehalt vorsah. Mit Eintritt des Versorgungsfalles setzte die Beklagte die Leitungen aus der Versorgungszusage sowie das von ihr geleistete monatliche Bruttogehalt ins Verhältnis zu dem bei der Vorarbeitgeberin geleisteten monatlichen Bruttogehalt und kürzte die Leistungen zudem um den Faktor 12/13. Der Kläger begehrte daraufhin die Zahlung einer höheren Betriebsrente in Gestalt von 13 Monatsrenten auf Basis des nach dem Betriebsübergangs gewährten monatlichen Bruttogehalts. Das ArbG hat die hierauf gerichtete Klage abgewiesen. Auf die Berufung des Klägers hat das LAG der Klage stattgegeben. Die Revision der Beklagten blieb ohne Erfolg.

Die Entscheidung

Der Dritte Senat des BAG hat die Versorgungszusage dahin gehend ausgelegt, dass bei der Ermittlung der Höhe der Betriebsrente das letzte, vor Eintritt in den Ruhestand bezogene, Bruttomonatsgehalt heranzuziehen sei. Der Betriebsübergang führe insoweit nicht zu einem „Einfrieren oder Festschreiben“ der endgehaltsbezogenen Leistung. Etwas anderes könne lediglich dann gelten, wenn die jeweilige Bemessungsgrundlage auf bestimmte Verhältnisse beim Veräußerer abstelle, die beim Erwerber keine Entsprechung finden. Dies sei aufgrund des sowohl von der Vorarbeitergerberin als auch von der Beklagten gewährten festen Bruttomonatsgehalts allerdings nicht der Fall. Die Beklagte könne sich auch nicht auf die bei ihrer Rechtsvorgängerin praktizierte Umrechnungsregelung berufen. Zwar seien auch die bei der Vorarbeitgeberin bestehenden Regelungen zur Umlegung des Bonus und des Weihnachtsgeldes auf die Beklagte übergegangen. Mangels Zahlung von Bonus und Weihnachtsgeld bei der Beklagten liefe die Umrechnungsregelung aber im Ergebnis leer und könne insbesondere nicht im Wege der Auslegung auf das bei der Beklagten gewährte höhere Bruttomonatsgehalt übertragen werden. Hierzu hätte es nach Auffassung des BAG einer konkreten Abrede bedurft.

Auch nach den Grundsätzen der ergänzenden Vertragsauslegung oder der Störung der Geschäftsgrundlage ergebe sich nichts anderes. Die Versorgungszusage sei durch den Betriebsübergang nicht lückenhaft geworden. Denn die Berechnungsgrundlage sei durch die Übernahme des Vergütungssystems der Beklagten nicht entfallen. Zwar führe die Anwendung der Berechnungsgrundlage aufgrund des höheren Monatsbruttogehalts zu höheren Versorgungsleistungen, eine Lücke, die eine ergänzende Vertragsauslegung eröffnen würde, ergebe sich hieraus allerdings nicht. Eine Anpassung nach den Grundsätzen der Störung der Geschäftsgrundlage schied nach Auffassung des BAG bereits deshalb aus, weil die Beklagte nicht dargelegt habe, dass ihr eine Fortsetzung der Versorgung ohne Kürzungsmöglichkeit nicht zugemutet werden könne. Schließlich sei die Beklagte auch in die gesondert gewährte Zusage auf das Rentnerweihnachtsgeld eingetreten, so dass der Kläger einen Anspruch auf 13. Rentenzahlungen auf Basis des letzten monatlichen Bruttogehalts vor Rentenbeginn habe.

Unser Kommentar

Beim Veräußerer bestehende Verpflichtungen aus Zusagen auf Leistungen der betrieblichen Altersversorgung haben im Rahmen eines Betriebsübergangs teilweise erheblichen Einfluss auf die Kaufpreisverhandlungen und können im Einzelfall sogar einen echten „Dealbreaker“ darstellen. Doch auch bei der Harmonisierung von Versorgungs- und Vergütungssystemen anlässlich eines Betriebsübergans ist Vorsicht geboten. Mit der vorliegenden Entscheidung bestätigt das BAG seine bisherige Rechtsprechung, wonach der Erwerber bei einem Betriebsübergang außerhalb der Insolvenz nicht in eine Versorgungszusage eintritt, „wie sie steht und liegt“ sondern wie sie zugesagt ist. Bei der Übernahme endgehaltsbezogener Leistungen bestehen für den Erwerber daher erhebliche wirtschaftliche Risiken, wenn die Auswirkungen auf die Altersversorgung bei der Harmonisierung von Vergütungssystemen übersehen werden. Neben den unmittelbaren wirtschaftlichen Auswirkungen, können Fehler in diesem Bereich auch den im Zuge eines Betriebsübergangs häufig ohnehin strapazierten Betriebsfrieden weiter gefährden. Daher sollten Harmonisierungsprozesse im Zuge eines Betriebsübergangs stets ganzheitlich unter besonderer Berücksichtigung der bAV erfolgen. 

Autor
Jan Hansen

Keine Auflösung des Betriebsratsgremiums im Restmandat

Übt der Betriebsrat aufgrund einer Betriebsstilllegung nur noch ein Restmandat aus, so kann er selbst bei groben Pflichtverletzungen – etwa eklatanten Verstößen gegen das Datenschutzrecht – aufgrund des Funktionszwecks des Restmandats nicht aufgelöst werden; in Betracht kommt aber der Ausschluss einzelner, ggfs. auch aller Betriebsratsmitglieder.

BAG, Beschluss vom 24.5.2023 – 7 ABR 21/21

Der Fall

Die beiden antragstellenden Arbeitgeberinnen unterhielten einen Gemeinschaftsbetrieb, dessen Geschäftsbetrieb zum 30. April 2019 eingestellt werden sollte. Nachdem die Verhandlungen über einen Interessenausgleich scheiterten, widersprach der dort gebildete Betriebsrat den beabsichtigten Kündigungen. Als die Arbeitgeberinnen diese dennoch aussprachen, versendete der Betriebsratsvorsitzende im Dezember 2018 eine E-Mail an diverse Rechtsanwälte, welche die betroffenen Arbeitnehmer in ihren Kündigungsschutzprozessen vertraten. Mit dieser Mail wurde den Empfängern Zugriff auf ein umfangreiches Konvolut von betrieblichen Unterlagen gegeben, mit denen belegt werden sollte, dass tatsächlich ein Betriebs(teil)übergang stattfindet. Der Betrieb wurde sodann z stillgelegt. Als die Arbeitgeberinnen Kenntnis von der Weitergabe der Unterlagen erlangten, beantragten sie gerichtlich die Auflösung des Betriebsrats sowie hilfsweise den Ausschluss des Betriebsratsvorsitzenden aus dem Gremium. Das ArbG gab dem Hauptantrag statt, das LAG wies beide Anträge ab.

Die Entscheidung

Der Siebte BAG-Senat entsprach wiederum nur dem Hilfsantrag. Der Hauptantrag sei unbegründet, da der Betriebsrat nur noch ein Restmandat innehabe und somit nicht aufgelöst werden könne. Geht ein Betrieb bspw. durch Stilllegung unter, so bleibe dessen Betriebsrat gem. § 21b BetrVG so lange im Amt, wie dies zur Wahrnehmung der damit im Zusammenhang stehenden Mitwirkungs- und Mitbestimmungsrechte erforderlich ist. Zwar könne nach § 23 Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 BetrVG u. a. der Arbeitgeber die Auflösung des Betriebsrats wegen grober Verletzung seiner gesetzlichen Pflichten beantragen. Die Regelung sei im Wege einer teleologischen Reduktion aber nicht auf den restmandatierten Betriebsrat anzuwenden, da ansonsten das gesetzgeberische Ziel des Auflösungsverfahrens verfehlt würde und ein Wertungswiderspruch zu der mit der Schaffung des Restmandats verfolgten Zielsetzung bestehe. Die Vorschrift des § 23 Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 BetrVG solle nicht vergangenes Verhalten bestrafen; maßgeblich sei, dass sich eine weitere Amtstätigkeit des Betriebsrats angesichts einer groben Pflichtverletzung als untragbar erweist. Das mit Wegfall der betrieblichen Organisation entstehende Restmandat stehe in einem (begrenzten) funktionalen Bezug zu den ausgelösten Mitwirkungs- und Mitbestimmungsrechten. Die erforderliche Prognose der Untragbarkeit beziehe sich daher nicht auf eine umfassende weitere Amtstätigkeit des Betriebsrats, vielmehr werde sie aufgrund der limitierten Aufgaben im Restmandat marginalisiert. Sinn und Zweck von § 21b BetrVG würden es wiederum gebieten, dass die betriebliche Mitbestimmung – gerade im Hinblick auf den Abschluss eines Sozialplans – nicht vollständig entfällt.

Die fehlende Möglichkeit zur Auflösung des Betriebsrats im Restmandat führe indes nicht zu einem „Freibrief“ für grobe Pflichtverletzungen, die auch in einer schwerwiegenden Verletzung der betriebsverfassungsrechtlichen Geheimhaltungspflicht oder einem eklatanten Verstoß gegen datenschutzrechtliche Bestimmungen liegen könnten. Ein solches Verhalten könne die Tatbestände anderer Normen erfüllen und die entsprechenden Rechtsfolgen auslösen. So komme vor allem ein Ausschluss einzelner Betriebsratsmitglieder gem. § 23 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 BetrVG bei einer objektiv erheblichen, offensichtlich schwerwiegenden und dem Betriebsratsmitglied zuzurechnenden Pflichtverletzung in Betracht. Die Vorschrift greife auch bei einem Betriebsrat im Restmandat und könne gar zu dessen Ende führen.

Unser Kommentar

Bei einem kollektiven Fehlverhalten mehrerer oder aller Betriebsratsmitglieder im Restmandat verbleiben dem Arbeitgeber in Folge der Entscheidung als einzige Handhabe zeitraubende Ausschlussanträge gegen jeden einzelnen Beteiligten. Erschwerend kommt hinzu, dass ein aus dem Betriebsrat ausgeschlossenes Mitglied nicht automatisch auch als Beisitzer einer Einigungsstelle über die Aufstellung eines Sozialplans ausscheidet, wenn es zu einem solchen berufen wurde. Das Argument, dass womöglich andere Normen Sanktionen anordnen, gelangt bereits hier an seine Grenzen.

Autoren
Axel Braun
Stephan Sura

Benachteiligung wegen Schwerbehinderung im Bewerbungsprozess – Anforderungen an die Darlegungslast

Zur Darlegung einer Diskriminierung genügt bereits die bloße Vermutung, ein Arbeitgeber habe Schutzpflichten zugunsten schwerbehinderter Menschen verletzt, etwa, weil er den Betriebsrat nicht über eine Bewerbung unterrichtet. Konkrete Anhaltspunkte dafür müssen nicht dargelegt werden.

BAG, Urteil vom 14.6.2023 – 8 AZR 136/22

Der Fall

Die Beklagte hatte dem Kläger, der sich unter Hinweis auf seine Schwerbehinderung bei ihr beworben hatte, eine Absage erteilt, woraufhin er eine Entschädigungszahlung nach dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) forderte. Dies lehnte die Beklagte ab, da der Kläger wegen fehlender Qualifikationen und nicht aufgrund seiner Schwerbehinderung abgelehnt worden sei. Auf die Forderung des Klägers nach einem Nachweis, dass die Beklagte im Hinblick auf ihre Auswahlkriterien sämtliche Bewerber gleichbehandelt hat, reagierte diese nicht. Der Kläger erhob daraufhin eine Entschädigungsklage vor dem Arbeitsgericht, unter anderem wegen der vom Kläger behaupteten unterbliebenen Unterrichtung des Betriebsrates über seine Bewerbung (§ 164 Abs. 1 Satz 4 SGB IX). Das Arbeitsgericht und das Landesarbeitsgericht wiesen die Klage ab. Vor dem BAG verfolgte der Kläger seine Klage weiter.

Die Entscheidung

Das BAG gab der Revision des Klägers teilweise statt und verurteilte die Beklagte zur Zahlung einer Entschädigung, wenngleich nicht zur Zahlung der insgesamt beantragten zwei Bruttomonatsgehälter, sondern zur Zahlung von anderthalb Bruttomonatsgehältern, hier EUR 7.500,00. Der Kläger habe nach Ansicht das BAG eine unmittelbare Benachteiligung aufgrund seiner Schwerbehinderung erfahren. Aufgrund der unterbliebenen Unterrichtung des Betriebsrates über die Bewerbung bestehe die Vermutung einer solchen Benachteiligung wegen der Schwerbehinderung. Der Kläger sei dabei durch die bloße Behauptung des Verstoßes gegen § 164 Abs. 1 Satz 4 SGB IX seiner Darlegungslast nachgekommen. Mangels Zugangs zu unternehmensinternen Quellen konnte der Kläger nach Ansicht des BAG keine sichere Kenntnis von der fehlenden Unterrichtung erlangen, sodass seine Behauptung dahingehend nicht lediglich „ins Blaue hinein“ erfolgte. Der Vortrag konkreterer Tatsachen sei dem Kläger nicht zuzumuten gewesen. Demgegenüber hätte die Beklagte im Rahmen ihrer sekundären Beweislast darlegen müssen, aufgrund welcher Tatsachen diese Vermutung widerlegt sei, was sie nicht tat. Denn die Beklagte wollte sich prinzipiell nicht zur Behauptung des Klägers äußern wollen.

Daneben hielt das BAG den Einwand der Beklagten, der Kläger entspräche den Anforderungen an die Stellenausschreibung nicht, für nicht ausreichend, um die Vermutung einer Diskriminierung wegen der Schwerbehinderung zu widerlegen. Denn die von der Beklagten geforderten Fähigkeiten und Kenntnisse seien keine unverzichtbaren Voraussetzungen für die ausgeschriebene Stelle gewesen, wie es zum Beispiel bei bestimmten berufsrechtlichen Anforderungen der Fall wäre. Als weiteres Argument gegen einen Entschädigungsanspruch hatte die Beklagte im Prozess behauptet, der Kläger habe sich mit identischen Unterlagen bei verschiedenen Arbeitgebern beworben, um Bewerber im Sinne des AGG zu werden. Auch habe er die Geltendmachungsschreiben für eine Entschädigungszahlung bereits vorbereitet, Vergleichsvorschläge unterbreitet und Klagen angedroht. Diesen Vortrag hielt das BAG nicht für ausreichend, um von einem rechtsmissbräuchlichen Verhalten des Klägers auszugehen.

Unser Kommentar

Die Entscheidung führt die bisherige Rechtsprechung des BAG zur Darlegungslast in Entschädigungsprozessen bei Diskriminierung im Bewerbungsverfahren weiter. Bereits nach der bisherigen Rechtsprechung des BAG war ein Verstoß des Arbeitgebers gegen Schutzvorschriften ausreichend, um die Vermutung der Benachteiligung zu begründen. Bislang wurde jedoch noch nicht entschieden, dass nur die klägerische Behauptung eines Verstoßes gegen Vorschriften des SGB IX ausreicht, um der Darlegungslast zu genügen. Dies erhöht noch einmal das Risiko für Arbeitgeber, im Bewerbungsverfahren Formfehler zu machen und hierfür eine Entschädigungszahlung leisten zu müssen. Denn nach der Entscheidung des BAG muss damit gerechnet werden, dass künftig jeder erfolglose schwerbehinderte Bewerber eine Verletzung des § 164 Abs. 1 Satz 4 SGB IX behauptet, soweit ein Betriebsrat gebildet ist. Hinzu kommt, dass der Arbeitgeber sich in dem entschiedenen Fall nicht erfolgreich auf den Einwand der Rechtsmissbräuchlichkeit berufen konnte, was sogenannten „AGG-Hoppern“ in die Karten spielt. Dass der Einwand der Rechtsmissbräuchlichkeit aber auch durchgreifen kann, zeigen zwei aktuelle Entscheidungen des LAG Hamm (Urteil vom 23. März 2023 – 18 Sa 888/22) und LAG Berlin-Brandenburg (Urteil vom 6. September 2023 – 4 Sa 900/22). Das Thema bleibt daher spannend.

Bemerkenswert an der Entscheidung des BAG ist zudem die ausgeurteilte Höhe des Entschädigungsanspruchs, die hinter dem Klageantrag zurückbleibt. So senkt das BAG mit seiner Entscheidung über die Darlegungslast einerseits weiter die Anforderungen an die Geltendmachung des Entschädigungsanspruchs und bleibt andererseits restriktiv bei der Höhe der Entschädigung – die Obergrenze von drei Monatsgehältern nach § 15 Abs. 2 Satz 2 AGG wird erneut nicht ausgeschöpft. Finanziell lohnenswert ist der jahrelange Prozessweg für den erfolglosen Bewerber daher nicht. Potenzielle Kläger könnten dadurch trotz der niedrigen Anforderungen an ihre Darlegungs- und Beweislast von einem Klageverfahren abgeschreckt werden.

Autorin
Pia Annalena Wieberneit

Keine nachträgliche Verschlechterung des Arbeitszeugnisses ohne sachlichen Grund

Enthält ein einmal ausgestelltes Arbeitszeugnis eine Dankes-, Bedauerns- und Gute Wünsche-Formel, darf diese bei Neuausstellung ohne Vorliegen eines sachlichen Grundes nicht gestrichen werden.

BAG, Urteil vom 6.6.2023 – 9 AZR 272/22

Der Fall

Die klagende Arbeitnehmerin war bei der beklagten Arbeitgeberin, einer Fitnessstudiokette, beschäftigt. Zum Beendigungsdatum stellte die Arbeitgeberin ein Arbeitszeugnis mit einer Dankes-, Bedauerns- und Gute Wünsche-Formel aus. Die Arbeitnehmerin beanstandete das Arbeitszeugnis aus verschiedenen Gründen zweimal. In der dritten Fassung war die Dankes-, Bedauerns- und Gute Wünsche-Formel nicht mehr enthalten. Die Arbeitnehmerin verfolgte das Begehren, die Dankes- Bedauerns- und Gute Wünsche-Formel im Klagewege. Das Arbeitsgericht gab der Klage statt. Sowohl die Berufung beim LAG als auch die Revision der Beklagten waren erfolglos.

Die Entscheidung

In Fortsetzung der bisherigen Rechtsprechung stellte das BAG in seiner Entscheidung zunächst fest, dass kein unmittelbarer Anspruch aus § 109 Abs. 1 GewO auf eine Dankes-, Bedauerns- und Gute-Wünsche-Formel hergeleitet werden kann. Auch das Rücksichtnahmegebot des § 241 Abs. 2 BGB verpflichte den Arbeitgeber nicht, Dank, Bedauern und gute Wünsche in einem Arbeitszeugnis zu formulieren. Hat der Arbeitgeber allerdings einmal ein Arbeitszeugnis mit einer Dankes- , Bedauerns- und Gute-Wünsche-Formel ausgestellt, kann er diese nachträglich nicht mehr zum Nachteil des Arbeitnehmers abändern oder streichen, soweit kein sachlicher Grund vorliegt. Eine solche Abänderung verstößt gegen das Maßregelungsverbot nach § 612a BGB, wonach der Arbeitgeber den Arbeitnehmer nicht benachteiligen darf, weil dieser in zulässiger Weise seine Rechte ausübt. § 612a BGB schützt somit die Willensfreiheit des Arbeitnehmers. Selbst die zu berücksichtigende Meinungsfreiheit aus Art. 5 Abs. 1 GG gibt dem Arbeitgeber nicht das Recht, eine berechtigte Beanstandung des Arbeitnehmers zum Anlass zu nehmen, das Arbeitszeugnis nachteilig zu ändern. Zudem stellte das BAG fest, dass der zeitliche Anwendungsbereich des § 612a BGB nicht auf das laufende Arbeitsverhältnis beschränkt, sondern auch nach dessen Beendigung eröffnet sei. Die Bestimmung des § 612a BGB entfaltet somit, insbesondere im Bereich von Arbeitszeugnissen, nachvertragliche Wirkung.

Unser Kommentar

Während Zeugnisstreitigkeiten häufig die Geduld strapazieren mögen, zeigt die Entscheidung des BAG, dass sich in der Regel Auseinandersetzungen für einen Arbeitgeber nicht lohnen. Wurde freiwillig eine Dankes-, Bedauerns- und Gute-Wünsche-Formel aufgenommen, im Zuge einer Auseinandersetzung aus nicht sachlichen Gründen diese jedoch aus einer späteren Fassung wieder entfernt, verstößt dies auch nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses gegen das Maßregelungsverbot des § 612 a BGB.

Autorin
Dr. Astrid Schnabel, LL.M. (Emory)

Ermittlung des pfändbaren Einkommens bei privat genutztem Dienstwagen

Bei der Ermittlung des pfändbaren Einkommens ist grundsätzlich auch ein zur Privatnutzung gewährter Dienstwagen zu berücksichtigen. Die dementsprechende Bewertung richtet sich nach der sog. 1 %-Methode; der Zuschlag nach § 8 Abs. 2 Satz 3 EStG (0,03 %) findet indes keine Berücksichtigung. Übersteigt der Wert der vereinbarten Sachbezüge die Höhe des pfändbaren Teils des Arbeitsentgelts, so verstößt der Arbeitgeber gegen § 107 Abs. 2 Satz 5 GewO.

BAG, Urteil vom 31.5.2023 – 5 AZR 273/22

Der Fall

Der klagende Arbeitnehmer war seit Sommer 2013 beim Arbeitgeber beschäftigt. Anstelle einer Entgelterhöhung vereinbarten die Parteien die Überlassung eines Dienstwagens wohl für betriebliche als auch private Zwecke. Der beklagte Arbeitgeber rechnete das Arbeitsverhältnis unter Berücksichtigung des geldwerten Vorteils für die private Nutzung des Dienstwagens nach der sog. 1%-Methode sowie für Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte nach der sog. 0,03 %-Regelung ab. In seiner Klage forderte der Arbeitnehmer die Zahlung von Nettovergütungsdifferenzen i.H.v. EUR 29.639,14. Er war der Auffassung, der Arbeitgeber habe über mehr als drei Jahre die Pfändungsgrenzen nicht beachtet. Das LAG änderte auf die Berufung des Arbeitnehmers hin das Urteil des ArbG ab und verurteilte den Arbeitgeber zur Zahlung der geforderten Nettovergütungsdifferenzen. Der Arbeitgeber legte Revision ein und beantragte die Klageabweisung.

Die Entscheidung

Das BAG erachtete die Revision für zulässig und begründet. Der Arbeitnehmer hätte jedoch Anspruch auf Zahlung der geltend gemachten Nettovergütungsdifferenzen aus § 611a Abs. 2 BGB, wenn der Arbeitgeber § 107 Abs. 2 Satz 5 GewO verletzt hätte, was das BAG auf Grundlage der getroffenen Feststellungen jedoch nicht entscheiden konnte, weshalb es das Urteil des LAG aufhob und zurück an das LAG verwies. Die Erfurter Richter betonten, dass nach § 107 Abs. 2 Satz 5 GewO der Wert der vereinbarten Sachbezüge die Höhe des pfändbaren Teils des Arbeitsentgelts nicht übersteigen dürfe. Dem Arbeitnehmer müsse der unpfändbare Betrag seines Entgelts in Geld ausgezahlt werden. Daher stelle die Anrechnung des Sachbezugs auf das Arbeitsentgelt einen Verstoß gegen § 107 Abs. 2 Satz 5 GewO dar, wenn die Summe aus in Geld zahlbarem Einkommen und der Naturalleistung nach den §§ 850c, 850e Nr. 3 Satz 1 ZPO unpfändbar ist. Dann wäre die Vereinbarung des Sachbezugs nach § 134 BGB nichtig und der Arbeitgeber zur Auszahlung des dem Wert des Sachbezugs entsprechenden Geldbetrags verpflichtet.

In diesem Zusammenhang stellte das BAG ebenfalls klar, dass bei der Ermittlung des pfändbaren Arbeitseinkommens iSd § 107 Abs. 2 Satz 5 GewO Geld- und Naturalleistungen nach § 850e Nr. 3 Satz 1 ZPO zusammenzurechnen sind. Überlässt der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer einen Dienstwagen zur privaten Nutzung, ist dies regelmäßig ein Sachbezug im Sinne von § 107 Abs. 2 Satz 1 GewO. Das BAG ergänzte, dass der Wert dieses Sachbezugs bei der Ermittlung des pfändbaren Arbeitseinkommens grundsätzlich mit 1 % des Listenpreises des PKW zzgl. Sonderausstattungen und USt. im Zeitpunkt der Erstzulassung zu bestimmen (§ 8 Abs. 2 Satz 2 i.V.m. § 6 Abs. 1 Nr. 4 Satz 2 EStG) sei. Nicht zusätzlich zu berücksichtigen sei der nach § 8 Abs. 2 Satz 3 EStG zu ermittelnden Zuschlag für die Nutzung des Fahrzeugs zwischen Wohnung und Arbeitsstätte (sog. 0,03 %-Regelung). Anderenfalls hätte es der Arbeitnehmer durch schlichte Wohnsitzverlegung in der Hand, auf die Vergütungshöhe Einfluss zu nehmen.

Unser Kommentar

Die Vorschrift des § 107 II 5 GewO ist Ausdruck des sog. „Truckverbots“ und soll sicherstellen, dass dem Arbeitnehmer der unpfändbare Teil seines Arbeitsentgelts in Geld ausgezahlt wird. Daher verstößt die Anrechnung des sog. geldwerten Vorteils wegen der Überlassung eines Dienstwagens auch zur Privatnutzung gegen § 107 II 5 GewO, wenn der Wert der vereinbarten Sachbezüge die Höhe des pfändbaren Teils des Arbeitsentgelts übersteigt. Das BAG hat nunmehr klargestellt, wie das pfändbare Einkommen des Arbeitnehmers bei privat genutztem Dienstwagen zu ermitteln ist. Der Wert des Sachbezugs ist nach der sog. 1%-Methode zu berücksichtigen. Keine zusätzliche Berücksichtigung findet der geldwerte Vorteil in Höhe der sog. 0,03%-Regelung. Das Urteil sollte Anlass dazu geben, auf Grundlage der Lohnsteuerabzugsmerkmale zu prüfen, ob Arbeitnehmern, welchen Sachbezüge (auch Deputate und ggfs. Aktien) gewährt werden, der unpfändbare Teil des Arbeitsentgelts verbleibt. Anderenfalls hätte der Arbeitnehmer einen Anspruch auf Auszahlung des dem Wert des Sachbezugs entsprechenden Geldbetrags aus § 611a Abs. 2 BGB. Im Gegenzug dürfte der bereicherungsrechtliche Anspruch des Arbeitgebers auf Herausgabe der in der Vergangenheit gewährten Sachbezüge der Entreicherungseinwand entgegenstehen.

Autor
Daniel Greger

Anfechtung einer Betriebsratswahl wegen Verkennung des Betriebsbegriffs nach Umstrukturierung

Wird ein durch Tarifvertrag festgelegter betriebsverfassungsrechtlicher Wahlbetrieb zusammengelegt, verändert oder zerschlagen, so kann sein Substrat derart entfallen, dass der Tarifvertrag nach § 3 BetrVG seine Wirkung verliert. Die nächste Betriebsratswahl erfolgt dann entsprechend dem gesetzlichen Betriebsbegriff.

BAG, Beschluss vom 21.6.2023 – 7 ABR 19/21

Der Fall

Die Arbeitgeberin ist ein Unternehmen, das ihr Geschäft von der AWO Schleswig-Holstein übernahm und zahlreiche ambulante und stationäre Einrichtungen betreibt. Bei der AWO existierte ein Zuordnungs-TV nach § 3 BetrVG. Danach wurde u. a. ein unternehmensweiter Betriebsrat für die Bereiche Pflege und Bildungszentren gebildet. Der Bildungsbereich wurde bereits zum 1. Januar 2019 auf einen anderen AWO Landesverband übertragen; als der Bereich Pflege auf die beteiligte Arbeitgeberin überging, sank die Zahl der Mitglieder des Betriebsrats für diesen Bereich unter die vorgeschriebene Mindestanzahl. Der für die Neuwahl gebildete Wahlvorstand ging anhand des Zuordnungs-TV von einem unternehmensweiten Betrieb „Pflege“ bei der Arbeitgeberin aus. Diese focht die daraufhin abgehaltene Betriebsratswahl an und meinte, die Wahl hätte auf Basis des gesetzlichen Betriebsbegriffs erfolgen müssen. Aufgrund zahlreicher weit entfernter Kleinbetriebe im Sinne von § 4 BetrVG hätte dies nicht zu einem einheitlichen Betrieb geführt. ArbG und LAG erklärten die Wahl für unwirksam.

Die Entscheidung

Der Siebte BAG-Senat entsprach wiederum der Rechtsbeschwerde des (neu gebildeten) Betriebsrats. Ein zur Anfechtung einer Betriebsratswahl berechtigender Verstoß gegen wesentliche Wahlvorschriften liege u. a. vor, wenn der betriebsverfassungsrechtliche Betriebsbegriff verkannt wurde. Bei einer gewillkürten Vertretungsstruktur könne dies dann der Fall sein, wenn eine Wahl unter Anwendung eines unwirksamen Tarifvertrags nach § 3 Abs. 1 Nr. 1-3 BetrVG durchgeführt wurde, der Wahlvorstand bei der Anwendung eines wirksamen Tarifvertrags die maßgebliche betriebsverfassungsrechtliche Organisationseinheit verkannt oder dieser eine Vertretungsstruktur zugrunde gelegt hat, die beim Arbeitgeber aus anderen Gründen nicht gilt.

In diesem Zusammenhang habe das LAG zwar zutreffend angenommen, dass die Betriebsratswahl hier nicht auf Grundlage des Zuordnungs-TV durchgeführt werden durfte, weil die dort geregelte gewillkürte Organisationseinheit ohne den Fachbereich Bildungszentren bei der Arbeitgeberin so nicht (mehr) bestand. Durch Strukturveränderungen könne das Substrat einer durch Tarifvertrag errichteten Organisationseinheit mit der Konsequenz entfallen, dass die tariflichen Regelungen ihre Wirksamkeit verlieren. Etwas anderes folge vorliegend auch nicht aus einer geltungserhaltenden Auslegung des Tarifvertrags in Bezug auf potenzielle Umstrukturierungen oder aus der Überleitungsvereinbarung – letztere habe sogar explizit das Bedürfnis einer Anpassung anhand der Unternehmensentwicklung adressiert. Das LAG habe jedoch zu Unrecht angenommen, dass die Wahl eines unternehmenseinheitlichen Betriebsrats nicht auch auf Grundlage der gesetzlichen Betriebsverfassung infrage kommt. Das BAG verwies die Sache daher zurück, damit das LAG überprüft, ob die Einrichtungen der Arbeitgeberin jeweils selbstständige Betriebsteile i.S.d. § 4 Abs. 1 BetrVG darstellen oder nicht.

Unser Kommentar

Die Verkennung des Betriebsbegriffs hat in der Regel nicht die Nichtigkeit, sondern nur die Anfechtbarkeit einer Betriebsratswahl zur Folge, auch bei Wahlen zu gewillkürten Repräsentationsstrukturen. Ist eine Wahl nicht (mehr) nach einem Tarifvertrag gem. § 3 BetrVG durchzuführen, bestimmt sich der Betriebsbegriff (wieder) nach den §§ 1, 4 BetrVG – und somit auch, ob für einzelne Betriebsstätten anhand ihrer geografischen und organisatorischen Eigenständigkeit ggfs. ein eigener Betriebsrat zu bilden ist. Dabei wird oft übersehen, dass die räumliche Entfernung vom Hauptbetrieb alleine für die Betriebsratsfähigkeit nicht reicht. Zusätzlich muss eine eigene lokale Führungsstruktur vorhanden sein, wobei die Anforderungen sehr gering sind. Fehlt diese, sind die Mitarbeiter ohnehin dem Hauptbetrieb zuzurechnen.

Autor
Axel Braun

Rechtsprechung in Kürze

Kein Kündigungsschutz für Organvertreter auch bei zugrunde liegendem Arbeitsverhältnis

BAG, Urteil vom 20.7.2023 – 6 AZR 228/22

Liegt der rechtlichen Beziehung zwischen Organ und Gesellschaft ein Arbeitsverhältnis zugrunde, geht bei einem Betriebsübergang gem. § 613a BGB zwar das Arbeitsverhältnis, nicht aber die Organstellung auf den Erwerber über; solange die Organstellung besteht, hat der Betroffene zuvor gleichwohl keinen Kündigungsschutz.

Der Fall

Der Kläger war seit 2000 bei der Arbeitgeberin beschäftigt, die später zur Insolvenzschuldnerin wurde. Im Dezember 2013 wurde er zum Geschäftsführer bestellt, wobei weder schriftlich noch mündlich ein Dienstvertrag geschlossen wurde. Im Oktober 2019 wurde das vorläufige Insolvenzverfahren eröffnet, der Geschäftsbetrieb der Schuldnerin jedoch weitergeführt. Dieser bestand in der Erbringung von Logistikleistungen für andere Tochterfirmen der Gesellschafterin, ab Ende 2019 auch für ein neu gegründetes Unternehmen in den Niederlanden. Mitte Januar 2020 wurde sodann das Insolvenzverfahren über das Vermögen der Schuldnerin eröffnet und der Beklagte zum Insolvenzverwalter bestellt; noch am selben Tag kündigte dieser das Arbeitsverhältnis des Klägers „sowie ein etwaig bestehendes Geschäftsführeranstellungsverhältnis“. Das Schreiben ging dem Kläger am Vormittag des 16. Januar 2020 zu, am Nachmittag legte er sein Amt als Geschäftsführer durch Übersendung einer E-Mail mit sofortiger Wirkung nieder. In seiner anschließenden Klage machte er die Unwirksamkeit der Kündigung u. a. nach § 613a Abs. 4 BGB sowie den Übergang seines Arbeitsverhältnisses auf die neu gegründete Gesellschaft in den Niederlanden geltend. Diese habe in der Zwischenzeit einen wesentlichen Teil der Belegschaft, der Betriebsmittel und des Geschäftsbetriebs der Schuldnerin übernommen. Daneben sei die Kündigung nicht sozial gerechtfertigt. Das ArbG gab der Klage insgesamt statt, das LAG wies sie vollständig ab.

Die Entscheidung

Das BAG entsprach wiederum der Revision des Klägers, verwies die Sache jedoch zurück an das LAG. Zunächst habe die Kündigung keiner sozialen Rechtfertigung bedurft, weil der Kläger bei ihrem Zugang noch Geschäftsführer war. Die Vorschrift des § 14 Abs. 1 Nr. 1 KSchG, wonach der erste Abschnitt des KSchG nicht für die Mitglieder des Organs gilt, das zur gesetzlichen Vertretung der juristischen Person berufen ist, sei jedenfalls dann uneingeschränkt anwendbar, wenn die organschaftliche Stellung als Geschäftsführer zum Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung (noch) besteht. Dass die Geschäftsführertätigkeit vorliegend allein auf Grundlage eines Arbeitsvertrags erbracht wurde, stehe dem nicht entgegen. Ein Dienstvertrag sei nicht geschlossen worden, auch nicht konkludent. Dass ein GmbH-Geschäftsführer regelmäßig aufgrund eines Dienstvertrags tätig wird, ändere hieran nichts. Die in § 14 Abs. 1 Nr. 1 KSchG genannten Organvertreter würden ungeachtet eines etwaig bestehenden Arbeitsverhältnisses vom allgemeinen Kündigungsschutz herausgenommen.

Allerdings habe das LAG rechtsfehlerhaft angenommen, dass § 613a BGB auf den Kläger keine Anwendung finde, weshalb die Kündigung an sich gem. § 613a Abs. 4 BGB unwirksam sein könnte. Weil die Geschäftsführertätigkeit des Klägers auf einem Arbeitsvertrag basierte, sei er auch im Anwendungsbereich des § 613a Abs. 4 BGB Arbeitnehmer; die Norm sei nicht dahin gehend teleologisch zu reduzieren, dass sie nicht für Organmitglieder gelte, wenn der Organstellung ein Arbeitsvertrag zugrunde liegt. Da nach § 613a Abs. 1 Satz 1 BGB nur Rechte und Pflichten aus einem Arbeitsverhältnis übergehen, die Organstellung selbst aber ihren Rechtsgrund gerade nicht im Arbeitsverhältnis hat, gehe diese im Falle eines Betriebsübergangs im Übrigen nicht mit über. Ob der Kläger sein Begehren auf die Vorschrift stützen könne, stehe gleichwohl noch nicht fest, da das LAG erst weitere Feststellungen darüber treffen müsse, ob tatsächlich ein Betriebsübergang stattgefunden hat.

 

Initiierung einer Einigungsstelle bei mehreren Betriebsratsgremien auf derselben Ebene

LAG-Baden-Württemberg, Beschluss vom 11.9.2023 – 4 TaBV 4/23

Im Verfahren zur Einsetzung einer Einigungsstelle nach § 100 ArbGG sind die streitenden Betriebspartner zu beteiligen, selbst, wenn die Zuständigkeit oder gar die rechtliche Existenz des Betriebsratsgremiums infrage steht, weil auf derselben oder einer anderen Hierarchieebene ein weiterer womöglich zuständiger Betriebsrat existiert.

Der Fall

Die Beteiligten streiten um die Einsetzung einer Einigungsstelle zum Thema Zeiterfassung. Die Arbeitgeberin unterhält zwei Betriebe mit je einem örtlichen Betriebsrat. In ihrem Konzern wurde 2019 ein Gesamtbetriebsrat auf Konzernebene durch einen Tarifvertrag gem. § 3 BetrVG gebildet. Die Wirksamkeit dieser Errichtung stellte der Vorsitzende eines der örtlichen Betriebsräte infrage, weshalb er im März 2023 zur konstituierenden Sitzung eines (alternativen) Gesamtbetriebsrats einlud, wo er zum Gesamtbetriebsratsvorsitzenden gewählt und die Errichtung eines Konzernbetriebsrats beschlossen wurde. Mitglieder des anderen örtlichen Betriebsrats nahmen nicht teil. Im Mai 2023 fand sodann die konstituierende Sitzung des Konzernbetriebsrats statt, wo der Gesamt- auch zum Konzernbetriebsratsvorsitzenden gewählt wurde. Zudem wurde beschlossen, ein Einigungsstellenverfahren zum Gegenstand der Zeiterfassung samt Anwaltsbeauftragung einzuleiten. Im August fand erneut eine konstituierende Sitzung für den Konzernbetriebsrat statt, wo der Konzernbetriebsratsvorsitzende nochmals gewählt und die Einleitung des vorliegenden Verfahrens beschlossen wurde. Zwischenzeitlich schloss die Arbeitgeberin mit dem gewillkürten Gesamtbetriebsrat eine Gesamtbetriebsvereinbarung zur Zeiterfassung. Der Konzernbetriebsrat bestreitet deren Wirksamkeit, da der gewillkürte Gesamtbetriebsrat rechtlich nicht existent sei, und beantragte die Einsetzung einer Einigungsstelle zur Einführung eines Zeiterfassungssystems. Das ArbG wies den Antrag zurück.

Die Entscheidung

So entschied auch das LAG. Der gewillkürte Gesamtbetriebsrat sei am Verfahren nach § 100 ArbGG nicht zu beteiligen, sondern nur die streitenden Betriebspartner. Dies gelte auch, wenn die Zuständigkeit des beteiligten Gremiums zweifelhaft ist. Eine Bestellung der Einigungsstelle gem. § 100 Abs. 1 Satz 2 ArbGG dürfe nur dann abgelehnt werden, wenn ihre Zuständigkeit offensichtlich ausscheide. Dieser Grundsatz gelte sowohl bei vertikalen als auch bei horizontalen Zuständigkeitskonflikten. Dem Offensichtlichkeitsmaßstab sei immanent, dass auch ein unzuständiges Gremium zu einer Einigungsstelle gelangen könne.

Der Antragsteller sei vorliegend wiederum beteiligtenfähig. Eine Partei, deren rechtliche Existenz infrage stehe, sei im Hinblick auf die Zulässigkeit einer Klage als parteifähig zu betrachten, um hierüber eine Sachentscheidung zu erlangen. Dies gelte auch in einem Verfahren, dessen Gegenstand nicht die Existenz dieser Partei ist. Für eine zulässige Beschwerde fehle es vorliegend jedoch an einer ordnungsgemäßen Verfahrensbevollmächtigung zur Einleitung der Beschwerde. Zwar schlage die Fiktion der Beteiligten- auch auf die Handlungsfähigkeit eines infrage stehenden Gremiums durch. Die Beschlussfassung des Antragstellers zur Beauftragung des Prozessbevollmächtigten sei aber nicht in einer Sitzung getroffen worden, zu der ordnungsgemäß unter Beifügung einer Tagesordnung geladen wurde; zur Festsetzung des entsprechenden Tagesordnungspunktes sei der Gesamtbetriebsratsvorsitzende nicht befugt gewesen.

 

Beginn der Verjährung bei Urlaubsansprüchen

BAG, Urteil vom 20.12.2022 – 9 AZR 266/20

Die Verjährungsfrist im Hinblick auf Urlaubsansprüche fängt (ebenso wie die Verfallfristen des § 7 BurlG) erst dann an zu laufen, wenn ein Arbeitgeber seine Arbeitnehmer detailliert über noch bestehende Urlaubsansprüche und über etwaige Fristen, die zu dessen Untergang führen, informiert.

Der Fall

Die Klägerin war vom 1. November 1996 bis zum 31. Juli 2017 bei dem Beklagten in einem Umfang von vier Tagen pro Woche beschäftigt. Sie hatte einen Urlaubsanspruch von 24 Tagen/Kalenderjahr. Der Beklagte bescheinigte ihr per 31. Dezember 2011 einen Urlaubsanspruch von 76 Urlaubstagen. Auch in den Folgejahren nahm sie ihren Urlaubsanspruch nicht vollständig. Der Beklagte informierte die Klägerin nicht erneut über die Höhe ihres Urlaubsanspruchs und erläuterte zudem auch nicht die Möglichkeiten des Verfalls und der Verjährung, sollte sie den Urlaub nicht rechtzeitig nehmen.

Mit der am 14. Februar 2018 zugestellten Klage begehrte die Arbeitnehmerin eine entsprechende Urlaubsabgeltung, da der Beklagte zuvor nur einige Urlaubstage abgegolten hatte. Dieser trug vor, dass er seine Hinweis- und Aufforderungsobliegenheiten nicht habe kennen und befolgen können, da sich die diesbezügliche Rechtsprechung erst nach der Beendigung des Arbeitsverhältnisses geändert habe. Soweit die Urlaubsansprüche aus Zeiträumen vor dem Jahr 2015 stammten, seien sie zudem verjährt. Das BAG hatte bzgl. des Verjährungsbeginns einen Vorlagebeschluss an den EuGH gerichtet. Dieser hatte mit Urteil vom 22. September 2022 – C-120/21 (LB / TO) entscheiden, dass die Verjährungsfrist erst mit Information des Arbeitnehmers über die Höhe des Urlaubsanspruchs sowie dessen möglichen Verfalls beginnt.

Die Entscheidung

Das BAG gab der Klage infolgedessen letztlich statt. Die Urlaubsansprüche seien weder verfallen noch verjährt. Ein Verfall von Urlaubsansprüchen verlange in unionsrechtskonformer Auslegung und unter Berücksichtigung des Art. 7 RL 2003/88/EG, dass der Arbeitgeber den Arbeitnehmer konkret und in völliger Transparenz über die Höhe seines bezahlten Urlaubsanspruchs informiert. Er muss ihn – erforderlichenfalls förmlich – dazu auffordern, seinen Urlaub zu nehmen, und ihm klar und rechtzeitig mitteilen, dass der Urlaub verfällt, wenn er ihn nicht nimmt. Ein Verfall war damit vorliegend mangels Information der Klägerin durch den Beklagten ausgeschlossen. Der Beklagte konnte sich nicht darauf berufen, dass die Rechtsprechung zu den Mitwirkungsobliegenheit eines Arbeitgebers erst nach Ende des Arbeitsverhältnisses entstand. Bereits in seinem Urteil vom 6. November 2018 – C-684/16 (Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften) habe der EuGH die Mitwirkungsobliegenheiten begründet, ohne einen entsprechenden Vertrauensschutz oder eine „Übergangsfrist“ vorzusehen. Deshalb könnten auch nationale Gericht keinen Vertrauensschutz oder eine Übergangsfrist einführen.

Die Beklagte könne sich zudem nicht auf eine Verjährung der Ansprüche aus dem Zeitraum vor 2015 berufen. Die Regelung zum Verjährungsbeginn (§ 199Abs. 1 Nr. 1 BGB) sei ebenfalls unionsrechtskonform auszulegen. Sie beginne mit dem Schluss des Jahres, in dem der Arbeitgeber seine Mitwirkungsobliegenheiten im Zusammenhang mit der Gewährung und Inanspruchnahme des gesetzlichen Mindesturlaubs erfüllt hat. Da die Parteien für den vertraglichen Mehrurlaub keine Sonderregelungen vereinbart hatten, teilte der vertragliche Mehrurlaub das Schicksal des gesetzlichen Urlaubsanspruchs.

 

Irrelevanz einer Matrixstruktur für das Vorliegen einer Betriebsabteilung gem. § 15 Abs. 5 KSchG

LAG Niedersachsen, Urteil v. 24.7.2023 – 15 Sa 906/22

Für die Annahme einer Betriebsabteilung i.S.d. § 15 Abs. 5 KSchG reicht es bei Bestehen einer Matrixorganisation nicht aus, dass nur eine einzelne Arbeitnehmerin der betriebsübergreifenden Einheit vor Ort beschäftigt wird.

Der Fall

Die klagende Arbeitnehmerin war seit 2003 bei der beklagten Arbeitgeberin, einem Pharmaunternehmen, im Bereich Finance und Controlling beschäftigt. Zu ihren Aufgaben gehörten ua die Entwicklung und Implementierung von SAP-Finanzlösungen und die Analyse von Geschäftsprozessen. Da die Abteilungen der Beklagten in einer Matrixstruktur organisiert sind, war die Klägerin fachlich einem Direktor unterstellt, der – wie der Großteil ihres Bereichs – in Bangalore in Indien angesiedelt ist.

Die Klägerin war ferner Vorsitzende des bei der Beklagten gebildeten Betriebsrats sowie Vertrauensperson der schwerbehinderten Menschen. Im Sommer 2021 informierte die Beklagte den Betriebsrat über eine beabsichtigte Betriebsänderung, bei der auch Entlassungen vorgenommen werden sollten. Im Mai 2022 entschied die Beklagte, ua die Aufgaben des Bereichs der Klägerin komplett an andere Standorte im Ausland zu übertragen. Bei der Anhörung des Betriebsrats widersprach dieser der beabsichtigten Kündigung der Klägerin, die Beklagte kündigte das Arbeitsverhältnis dennoch ordentlich zum 31. Dezember 2022. Der darauffolgenden Kündigungsschutzklage gab das ArbG statt.

Die Entscheidung

So entschied auch das LAG Niedersachsen. Das Kündigung sei gem. § 15 Abs. 1 KSchG unwirksam, wonach die ordentliche Kündigung eines Betriebsratsmitglieds unzulässig sei. Die Voraussetzungen für die ausnahmsweise Zulässigkeit der Kündigung nach § 15 Abs. 5 KSchG lägen nicht vor. Die Klägerin sei nicht in einer Betriebsabteilung im Sinne der Norm beschäftigt worden, die stillgelegt wurde, da ihr Arbeitsbereich keine derartige Abteilung darstelle. Eine solche sei ein räumlich und organisatorisch abgegrenzter Teil des Betriebs, der eine personelle Einheit erfordere, dem eigene Betriebsmittel zur Verfügung stehen und der einen eigenen Betriebszweck verfolgt, selbst, wenn es bloß ein Hilfszweck sei. Dies sei hier nicht der Fall gewesen. Dadurch, dass die Klägerin die einzige Mitarbeiterin der behaupteten Abteilung im örtlichen Betrieb sei, versage das Kriterium des räumlich abgegrenzten Betriebsteils notwendigerweise. Auch könne bei einer Einzelperson keine organisatorische Verknüpfung innerhalb einer Abteilung bestehen.

Etwas anderes folge auch nicht aus der bei der Beklagten existierenden Matrixstruktur. Die Klägerin sei durch ihre Zuordnung in diese eingebunden und damit nicht organisatorisch eigenständig gewesen. Die Annahme einer Betriebsabteilung gem. § 15 Abs. 5 KSchG setze jedoch voraus, dass die Klägerin in einer von der Beklagten im örtlichen Betrieb geschaffenen Organisationsstruktur beschäftigt werde. Dies habe selbst die Beklagte nicht behauptet. Zwar sei nicht ausgeschlossen, dass in einer Matrixstruktur eigenständige Betriebsabteilungen bestehen können; allein die Existenz einer solchen Organisation reiche aber nicht aus, um dies zu indizieren. Die Revision wurde nicht zugelassen.

 

Rückzahlung von Fortbildungskosten – Nichtbestehen einer Prüfung

BAG, Urteil vom 25.4.2023 – 9 AZR 187/22

Einzelvertragliche Vereinbarungen zur Rückzahlung von Fortbildungskosten bei Nichtbeendigung sind grundsätzlich zulässig. Nicht zulässig ist es, die Rückzahlungspflicht schlechthin an das wiederholte Nichtablegen der angestrebten Prüfung zu knüpfen, ohne die Gründe dafür zu betrachten. Die vom Arbeitgeber (mit)verantwortete Kündigung ist in einer Härtefallklausel zu berücksichtigen.

Der Fall

Die Beklagte war bei der Klägerin beschäftigt. Die Parteien schlossen im Rahmen einer Fortbildung der Beklagten einen Fortbildungsvertrag, der unter anderem unter § 5 Nr. 3 die Regelung enthielt, dass die Fortbildungskosten zurückzuzahlen sind, wenn die Beklagte das Steuerberaterexamen wiederholt nicht ablegt. Die Härtefallregelung sah vor, dass die Rückzahlungspflicht entfallen würde, wenn die Wiederaufnahme und Beendigung des Examens aufgrund zu großen Zeitablaufs oder aufgrund von Prüfungsbestimmungen nach Beendigung eines objektiv nicht zu vertretenden Grundes nicht mehr möglich sein sollte. Die Beklagte trat nicht zur Prüfung an und kündigte das Arbeitsverhältnis. Die Klägerin fordert die Fortbildungskosten zurück. Das ArbG gab der Klage statt, das LAG wies die Berufung zurück.

Die Entscheidung

Das BAG gab der Revision statt. Die Klägerin habe keinen Anspruch auf Rückzahlung geleisteter Förderbeträge. § 5 Nr. 3 des Fortbildungsvertrags sei gem. § 307 I 1 BGB unwirksam. Die Beklagte werde durch diese Regelung unangemessen benachteiligt, indem letztere an das wiederholte Nichtablegen der Prüfung anknüpfe, ohne in erforderlichem Maß danach zu differenzieren, aus welchen Gründen eine Teilnahme an der Prüfung nicht erfolgt ist. Eine Rückzahlungspflicht soweit der Arbeitnehmer die Fortbildung nicht beendet, sei grundsätzlich zulässig. Hiervon auszunehmen seien jedoch praktisch relevante Fallkonstellationen, in denen die Gründe für die Nichtbeendigung nicht in der Verantwortungssphäre des Arbeitnehmers liegen, wie insbesondere eine durch ein Fehlverhalten des Arbeitgebers (mit) veranlasste Kündigung durch den Arbeitnehmer. Die Härtefallregelung führe nicht zur Angemessenheit der Norm. Sie regele lediglich die Suspendierung der Pflicht, das Examen abzulegen, nicht aber die Aufhebung der Rückzahlungspflicht. Es könne nicht angenommen werde, dass sie die durch Arbeitgeberverhalten veranlasste Eigenkündigung des Arbeitnehmers – trotz fehlender entsprechender Erwähnung im Wortlaut – von der Rückzahlungspflicht ausnehmen sollte. Diese stelle im Arbeitsleben aber keinen seltenen und fernliegenden Tatbestand dar, so dass sie gesondert erwähnt werden müsse.

Für die Beurteilung der Wirksamkeit der Rückzahlungsklausel sei es unerheblich, welche Gründe die Beklagte veranlasst haben, das Examen nicht abzulegen. Die §§ 307 ff. BGB missbilligten bereits das Stellen inhaltlich unangemessener Formularklauseln. Daher seien auch solche Klauseln der Rechtsfolge der Unwirksamkeit unterworfen, die in zu beanstandender Weise ein Risiko regeln, das sich im Entscheidungsfall nicht realisiert hat.

 

Widerspruch gegen Betriebsübergang – Inhalt des Unterrichtungsschreibens

BAG, Urteil vom 29.6.2023 – 2 AZR 326/22

Über die Anwendbarkeit tariflicher Normen beim Betriebserwerber muss vor einem Betriebsübergang grundsätzlich i.S.v. § 613a V Nr. 3 BGB unterrichtet werden. Nicht erforderlich ist eine Unterrichtung von außertariflichen Arbeitnehmern über einen Tarifvertrag, der für sie weder normativ gilt noch durch Inbezugnahme Anwendung findet.

Der Fall

Die Parteien streiten über das Bestehen eines Arbeitsverhältnisses, nachdem der Kläger dessen Übergang auf eine Betriebserwerberin widersprochen hatte. Der Kläger arbeitete seit 2004 als außertariflicher Mitarbeiter bei der Beklagten und deren Rechtsvorgängerinnen. Im Jahr 2004 schloss der, der Beklagten übergeordnete, Konzern einen Tarifvertrag zur sozialverträglichen Begleitung von Personalanpassungsmaßnahmen ab. Dieser galt für alle tarifgebundenen Arbeitnehmer des Konzerns. Für außertarifliche Arbeitnehmer sollte die Anwendung des Tarifvertrags seitens des Konzerns sichergestellt werden. Im folgenden Jahr entschloss sich die Beklagte, die bisher selbst erbrachten IT-Dienstleistungen mit Wirkung zum 1. Februar 2017 auf einen externen Dienstleister zu übertragen sowie auch sämtliche Betriebsmittel der bestehenden Data Center. Hierüber wurde der Kläger mit Schreiben vom 2. Dezember 2016 informiert. Am 13. Mai 2019 widersprach der Kläger dem Übergang seines Arbeitsverhältnisses schriftlich. Das ArbG wies die Klage ab, das LAG gab ihr statt.

Die Entscheidung

Das BAG gab der Revision der Beklagten statt. Zwischen den Parteien bestehe kein Arbeitsverhältnis. Das Arbeitsverhältnis des Klägers sei im Wege des Betriebs(teil)übergangs gem. § 613a I 1 BGB auf die W GmbH übergegangen. Der Kläger habe nicht wirksam widersprochen. Grundsätzlich habe dem Kläger gegen den Übergang seines Arbeitsverhältnisses ein Widerspruchsrecht gem. § 613a VI 1 BGB zugestanden. Dieses müsse innerhalb der Monatsfrist, welche mit dem Zugang der ordnungsgemäßen Unterrichtung durch den Arbeitgeber gem. § 613a V BGB zu laufen beginne, ausgeübt werden. Der Widerspruch sei verfristet gewesen. Die Unterrichtung des Arbeitgebers sei ordnungsgemäß erfolgt, insbesondere weder unklar noch unvollständig. Sie diene dem Widerspruchsrecht und der Arbeitnehmer sei so zu informieren, dass dieser sich über den Gegenstand des Betriebs(teil)übergangs und die Person des Übernehmers sowie über die in
§ 613a V BGB genannten Umstände „ein Bild machen“ könne. Hierzu gehöre grundsätzlich auch die Anwendbarkeit tariflicher Normen und inwieweit beim Veräußerer geltende Tarifverträge und Betriebsvereinbarungen durch beim Erwerber geltende Tarifverträge abgelöst würden. Diese Angaben seien jedoch entbehrlich, wenn für den Arbeitnehmer mangels Tarifbindung oder Bezugnahmeklausel beim Betriebsveräußerer kein Tarifvertrag gelte.

Internationaler Newsflash aus dem unyer Netzwerk: Die Pflicht zur Arbeitszeiterfassung nach französischem Arbeitsrecht

Das französische Arbeitsrecht schreibt seit 1991 gesetzlich vor, dass die Arbeitszeit von Arbeitnehmern erfasst werden muss. Nur, wenn die Arbeitszeit kollektiv organisiert ist, d. h. wenn alle Mitarbeiter in einem Betrieb oder einem Unternehmen die gleichen Arbeitszeiten haben, besteht prinzipiell keine Pflicht zur Arbeitszeiterfassung. Wenn der Arbeitgeber diese kollektive Arbeitszeit einführt, muss er gleichwohl den Arbeitsinspektor informieren und die Arbeitszeit in den Räumlichkeiten aushängen.

Bei individuellen, also variierenden Arbeitszeiten muss indes die von einem jeden Arbeitnehmer geleistete tägliche Arbeitszeit gemessen werden; dies galt auch bereits vor dem Entscheidung des Europäischen Gerichtshof in der Rechtssache CCOO (EuGH, Urteil vom 14. Mai 2019 – C/55/18 [CCOO]). Nach dem französischen Arbeitsgesetz bedarf es dabei keiner bestimmten Form bzw. keines bestimmten Mittels für die Zeiterfassung, etwa Stundenzettelvorlagen, einer Stechuhr oder einer digitalen Methode. In der Praxis ist es dennoch empfehlenswert, die Arbeitszeiten zu erfassen, selbst, wenn kollektive Arbeitszeiten existieren: Im Falle eines Streits über die tatsächlich geleisteten Arbeitsstunden trifft den Arbeitgeber die Beweislast darüber, wie viele Arbeitsstunden vom Arbeitnehmer de facto geleistet wurden. Zwar soll in allen Fällen zuerst der Arbeitnehmer seine Forderung mit ausreichend genauen Informationen über die unbezahlten Stunden determinieren, die er angeblich geleistet hat. Der Arbeitgeber muss dann aber mit eigenen Beweismitteln erwidern, also z. B. Zeugenaussagen oder schriftlichen oder digitalen Nachweisen. In diesem Zusammenhang ist anerkannt, dass der Arbeitnehmer durch eine einfache Excel-Tabelle oder eine vom Arbeitgeber nicht gegenzeichnete Abrechnung genügend Informationen erbringt, um die Vergütung (bisher) unbezahlter Überstunden verlangen zu können. Unabhängig von der primären Beweislast muss der Arbeitgeber mithin immer in der Lage sein, die vom Arbeitnehmer geleisteten Stunden beweisen zu können. Von daher ist es erforderlich, die Arbeitszeit der Mitarbeiter stets zu erfassen, um insbesondere der Geltendmachung von Ansprüchen zur Bezahlung von Überstunden zu begegnen.

Autor
Xavier Drouin
Fidal

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