02.10.2023

Commercial Newsletter 3. Quartal 2023

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Editorial

Liebe Leser,

die Zeit fliegt und das Jahr 2023 neigt sich bereits seinem Ende entgegen – das dritte Quartal ist vorbei und wir stellen Ihnen gerne unseren dritten Newsletter im Jahr 2023 zur Verfügung.

Dr. Kuuya Chibanguza und Benedikt Stücker befassen sich mit der aktuellen Entwicklung hinsichtlich einer möglichen Haftung eines Geschäftsführers im Bußgeldregress der Gesellschaft bei unterlassener Entwicklung der Cybersicherheit im Unternehmen als Teilbereich des unternehmensinternen Compliance-Systems.

Dr. Christoph von Burgsdorff und Luisa Kramer stellen die aktuelle Entwicklung im Gesetzgebungsverfahren zur Einführung des sogenannten BGH-Leitentscheidungsverfahrens und den Auswirkungen auf den dir zivilprozessuale Geltendmachung von Ansprüchen dar.

Dr. Boris Ober macht auf eine drohende Rechtsunsicherheit ab dem 1. September 2023 bei dem Zeitraum der notwendigen Überschuldungsprüfung und Fortbestehensprognose aufmerksam.

Dr. Thomas Hufnagel und Jan Zimmer berichten über eine aktuelle Rechtsentwicklung bei Arbeitsgenehmigungen und ein neues Bewerbungsverfahren um eine Arbeitserlaubnis für ausländische Arbeitnehmer in Singapur.

Dr. Marcus Backes und Artur Winkler geben einen Einblick in das derzeit laufende Normsetzungsverfahren der EU zur europaweiten Harmonisierung des Insolvenzrechts.

Wie gewohnt gilt: Bei Nachfragen und Beratungsbedarf zu diesen und anderen Themen stehen wir Ihnen jederzeit gern zur Verfügung. Wir wünschen Ihnen neue Erkenntnisse bei der Lektüre dieser Beiträge und einen erfolgreichen Abschluss des Jahres 2023!

Dr. Steffen Gaber, LL.M. (Sydney)                                   Dr. Paul Derabin
Head of Commercial                                                        Legal Content Coordinator

Commercial.KI: Managerhaftung für Unternehmensgeldbußen – Neue Ansätze in Rechtsprechung und Gesetzgebung auch für die produktbezogene Praxis

1. Hintergrund

Eine vollumfängliche Produkt-Compliance kann regelmäßig nur durch ein zentral gesteuertes und gut organisiertes Compliance-Management-System erreicht werden und ist aus diesem Grund traditionell „Chefsache“. Wurde ein solches System allerdings von oberster Stelle nicht ordnungsgemäß in die Unternehmensstruktur integriert, so führte dies in der Vergangenheit regelmäßig zur Frage, ob und wie Unternehmen, gegen die infolge von Verstößen gegen die Vorgaben des Produktsicherheitsrechts Geldbußen verhängt wurden, im Innenverhältnis ihre Geschäftsführer in Regress nehmen konnten. In abgeschwächter Form galt dies auch für die sonstigen Leitungspersonen.

Während der Großteil der Instanzenrechtsprechung und so auch neulich erst der 6. Kartellsenat des OLG Düsseldorf
(Az.: VI-6 U 1/22 (Kart), vgl. dazu auch die Besprechung jener Entscheidung im Luther Blog durch die Kollegen Dr. Sebastian Janka und Martin Lawall) einen Bußgeldregress in diesen Konstellationen ablehnt, so äußerte jüngst das LG Dortmund in seinem Beschluss vom 21. Juni 2023 (Az.: 8 O 5/22) die vorläufige Rechtsauffassung, dass ein solcher Regress infrage käme. Auch der Entwurf zum Umsetzungsgesetz zur Network-and-Information-Security-2.0-Richtlinie (NIS2-RL) statuiert eindeutig, dass die dort vorgesehene Geschäftsführerhaftung auch den Bußgeldregress umfasst.

Sowohl in der Judikative als auch in der Legislative gibt es also aktuelle Bestrebungen, eine persönliche Innenhaftung der Geschäftsführung für Unternehmensgeldbußen zu implementieren. In der Folge soll aus diesem Grund zunächst die Problematik allgemein dargestellt werden (2.), um im weiteren Verlauf die Argumentationslinie der aktuellen Befürworter einer Geschäftsführerhaftung zu erörtern (3.) und die Folgen für die Praxis des Produktbezogenen Rechts darzustellen (4.).

2.
Grundsätze der Organhaftung für Unternehmensgeldbußen

Vorsätzliche Verstöße gegen Compliance-Pflichten werden von den jeweils einschlägigen Gesetzen regelmäßig als Ordnungswidrigkeit eingeordnet und sind somit bußgeldbewehrt. Die Höhe der Bußgelder ist hierbei gerade auf unionaler Ebene bewusst hoch angesetzt, um eine tatsächliche Gesetzesbindung auch für große Unternehmen sicherzustellen und ein „Freikaufen“ von den gesetzlichen Pflichten zu verhindern. Teilweise werden hier Festbeträge genannt, das ProdSG und das MÜG sehen beispielsweise, je nach Art des Verstoßes, Bußgeldsummen bis zu EUR 100.000 vor. In anderen Fällen wird ein relativer Maßstab gewählt, so sieht beispielsweise das Umsetzungsgesetz zur NIS2-RL einen Bußgeldstrafrahmen vor, der bis zu 2 % des weltweit erzielten Jahresumsatzes (nicht des Gewinns!) umfasst. Im Rahmen des KI-VO-E sind es gemäß Art. 71 sogar bis zu 6 % des weltweiten Jahresumsatzes. Ein Bußgeld in dieser Höhe können und wollen sich auch die größten Unternehmen nicht leisten, sodass gerade in Fällen eines relativ zu bestimmenden Bußgeldrahmens besonders hohe Anforderungen an die eigene Produkt-Compliance stellen sollte.

Eine der zentralen Aufgaben der Unternehmensleitung ist es deshalb, das Unternehmen auf eine Art und Weise zu organisieren, zu strukturieren und zu optimieren, dass es im Einklang mit den jeweils geltenden gesetzlichen Vorschriften agiert. Neben der allgemeinen Pflicht zur Beachtung gesetzlicher Pflichten (Legalitätspflicht) trifft die Geschäftsführung in diesem Rahmen auch die Pflicht, ein rechtmäßiges Verhalten der einzelnen Mitarbeiter sicherzustellen (Legalitätskontrollpflicht). Um die Kontrolle der Einhaltung dieser Pflichten zu verschärfen, hat der Gesetzgeber nicht nur im Rahmen des Marktüberwachungsgesetzes die Nachforschungsmöglichkeiten der Marktüberwachungsbehörden deutlich erhöht, sondern auch ein neues Hinweisgeberschutzgesetz erlassen, das Whistleblowern die Möglichkeit geben soll möglichst risikofrei unternehmensinterne Compliance-Verstöße und sonstige Missstände aufzudecken.

Verletzt ein Geschäftsführer eine seiner (produktbezogenen) Pflichten, stellt sich aus diesem Grund die Frage, inwiefern die Gesellschaft im Innenverhältnis zu ihm wegen des zu zahlenden Bußgelds Regressansprüche haben kann. Während dies, wie bereits dargestellt, herrschend abgelehnt wird, so gibt es nun mit dem Beschluss des LG Dortmund einen Fall, in denen die Möglichkeit eines Bußgeldregresses gegen Geschäftsführer angenommen wurde, sodass für diese über das allgemeine Interesse an einer ordnungsgemäßen und wirtschaftlichen Unternehmensführung hinaus ein gesteigertes individuelles Interesse daran besteht, Produktkonformität herzustellen und eine Haftung des Unternehmens für Produktfehler zu vermeiden.

3. Der Beschluss des LG Dortmund

Das LG Dortmund äußerte in seinem Beschluss vom 21. Juni 2023 (Az.: 8 O 5/22) die vorläufige Rechtsauffassung, dass die Haftung eines Geschäftsführers im Bußgeldregress der Gesellschaft dem Grunde nach zu bejahen sei. Im konkreten Fall hatte ein Gesellschafter an einem der Gesellschaft zurechenbaren Kartellrechtsverstoß mitgewirkt.

Nach Argumentation der Kammer stünden zivil- und ordnungsrechtliche Sanktionen nebeneinander, sodass die ordnungsrechtliche Sanktionsfunktion, die das Bußgeld gegenüber dem Unternehmen erfüllen solle, nicht durch einen späteren zivilrechtlichen Regress gegen einen Geschäftsführer unterlaufen werden könne. Erstens müsse das Unternehmen zunächst in Vorleistung gehen und sei somit dem Insolvenzrisiko des Geschäftsführers ausgesetzt, zweitens könne das Bußgeld aufgrund seiner Höhe meist ohnehin nicht vollumfänglich vom Geschäftsführer zurückverlangt werden und drittens entstehe beim Unternehmen überdies ein nicht umwälzbarer Imageschaden. Das Anerkennen eines solchen Regresses wahre somit nach wie vor die Abschreckungs- und Präventionsfunktion des Bußgeldes. Vielmehr würde die vollständige Absage an einen Bußgeldregress falsche Anreize für Geschäftsführer setzen, die dazu angehalten sein könnten, durch Rechtsverletzungen Vorteile für sich selber und das Unternehmen zu generieren.

Der Beschluss beruht mithin nicht auf kartellrechtlicher lex specialis, sondern auf der allgemeinen Wertung, dass ein Geschäftsführer nicht aufgrund der bestehenden Haftungsbeschränkung im Innenverhältnis zur Gesellschaft dazu verleitet werden soll, dem Unternehmen oder sich selbst durch bewusst rechtswidriges Handeln einen wirtschaftlichen Vorteil zu verschaffen. Diese Wertung ließe sich entsprechend auch auf das Produktsicherheitsrecht übertragen, in dessen Rahmen das Individualinteresse eines Geschäftsführers an der Herstellung von Produktkonformität regelmäßig ebenfalls gesteigert sein dürfte, wenn er im Falle eines Produktvorfalls persönlich für die damit einhergehenden Bußgeldzahlungen aufkommen müsste.

4. Folgen für die Praxis

Die Diskussion um die Regressfähigkeit von Unternehmensgeldbußen nimmt angesichts dieser aktuellen Entwicklungen Fahrt auf.

Bei der Entscheidung des LG Dortmund handelt es sich, Stand jetzt, um eine Mindermeinung in der Rechtsprechung, der seitdem, wie dargestellt, beispielsweise das OLG Düsseldorf in einer aktuellen Entscheidung (Az.: VI-6 U 1/22 (Kart)) nicht gefolgt ist. In besagter Sache wurde allerdings die Revision zum BGH zugelassen, sodass zumindest für das Kartellrecht eine endgültige Klärung dieser Rechtsfrage in Aussicht steht.

Die nationale Umsetzung der NIS2-RL hingegen wird aller Voraussicht nach im Frühjahr 2024 verabschiedet, sodass ein Bußgeldregress in diesem Bereich in absehbarer Zeit legislativ verankert wird. Im Feld der Cybersicherheit empfiehlt es sich also spätestens jetzt für die verantwortlichen Geschäftsführer ein umfassendes und effektives Compliance-System in ihrem Unternehmen zu installieren, um eine persönliche Haftung im Innenverhältnis zu vermeiden. Der Aufbau derartiger Compliance-Systeme ist von der Union in allen Richtlinien und Verordnungen vorgesehen, die als Teil des sogenannten „New Legislative Framework“ eine einheitliche Produktkonformität in der EU sichern sollen und zu diesem Zweck verbindliche Produktrisikoanalysen, Marktbeobachtungspflichten, Meldepflichten und Risikoabwehrmaßnahmen in Zusammenarbeit mit den zuständigen Behörden verlangen, wobei Compliance-Verstöße mit Bußgeldern bewehrt sind. Beispiele für derartige Vorschriften sind unter anderem die kommende KI-VO, die neue Maschinen-VO und die Marktüberwachungs-VO, auch das ProdSG ist mittlerweile an das „New Legislative Framework“ angepasst worden. Es wäre in diesem Rahmen folglich nicht überraschend, wenn ein Bußgeldregress des Unternehmens gegen die Geschäftsführer sich in Zukunft auch in anderen Bereichen der Produkthaftung wiederfindet, naheliegend wäre dies beispielsweise bei der Haftung für Verstöße gegen die KI-Compliance, bei der es ohnehin einige Überschneidungen mit dem Feld der Cyber-Security gibt.

Geschäftsführer sind folglich mehr denn je dazu angehalten, die Einhaltung ihrer Legalitäts- und Legalitätskontrollpflichten durch Implementierung und Überwachung von umfassenden Compliance-Management-Systemen sicherzustellen. Auch wenn der Bußgeldregress des Unternehmens gegen Geschäftsführer zunächst wohl eine Ausnahme bleibt, so machen die aktuellen Entwicklungen deutlich, dass sich dies sehr schnell ändern kann.

In diesem Zusammenhang ebenfalls relevant werden könnten die vom BGH in seiner Lederspray-Entscheidung (Az.: 2 StR 549/89) aufgestellten Leitlinien zur strafrechtlichen Produkthaftung, nach denen eine persönliche strafrechtliche Verantwortlichkeit für Produktfehler nicht nur für das oberste Management infrage kommt, sondern auch für andere Mitarbeiter, die innerhalb der Unternehmensstruktur eine bereichsspezifische Verantwortung tragen. Bei Gremienentscheidungen innerhalb eines Unternehmens seien zudem bei nicht nachweisbarer Einzelkausalität alle Gremienmitglieder strafrechtlich verantwortlich. Dahingehend wurde die Entscheidung in der Literatur zwar vielfach kritisiert, insbesondere der strafrechtlich für Produktfehler haftende Personenkreis wurde für zu weit gehalten, eine Haftung (leitender) Angestellter, die der BGH im konkreten Fall angenommen hatte, käme vielmehr nur in absoluten Ausnahmefällen in Betracht. Bei Implementierung und Ausführung des Product-Compliance-Systems sollte man jedoch dennoch stets im Bewusstsein handeln, dass das eigene Handeln oder Unterlassen über die Sanktion mit Bußgeldern hinaus auch eine strafrechtliche Haftung zur Folge haben kann.

Commercial.Litigation: Update zum Leitentscheidungsverfahren des BGH – Entlastung für Verbraucher und Justiz?

Die Bundesregierung hat am 16. August 2023 den vom Bundesjustizministerium vorgelegten Regierungsentwurf eines Gesetzes zur Einführung eines Leitentscheidungsverfahrens beim Bundesgerichtshof beschlossen. Der Gesetzentwurf der Bundesregierung entspricht dem Entwurf des Bundesministeriums der Finanzen. Durch die Einführung von Leitentscheidungen wird dem Bundesgerichtshof die Möglichkeit eröffnet, sich zu grundsätzlichen Rechtsfragen unabhängig von der Beendigung des Verfahrens durch die Parteien zu äußern.

Wie bereits in unserem Beitrag vom 17. Juli 2023 ausgeführt, stellen massenhafte, meist von Verbrauchern erhobene Einzelklagen zur gerichtlichen Geltendmachung ähnlicher Ansprüche eine große Belastung für die Zivilgerichte dar. Aktuelle Beispiele sind etwa die Diesel-Klagen, unwirksame Klauseln in Fitnessstudioverträgen oder in Versicherungs- und Bankverträgen. Die Beschreitung des Rechtswegs soll daher zum einen die Gerichte durch effiziente, zügige Entscheidungen entlasten, schneller Rechtssicherheit bei den Betroffenen sowie Rechtsanwendern schaffen und zum anderen den Verbraucher vor hohen Kosten bewahren.

Der Gesetzentwurf sieht vor, dass der Bundesgerichtshof (BGH) ein Verfahren zu einem Leitentscheidungsverfahren erklären kann, wenn in einem Massenverfahren Revision eingelegt wird. Über die grundsätzlichen Rechtsfragen kann der Bundesgerichtshof auch dann entscheiden, wenn sich das Verfahren durch einen Akt der Parteien erledigt hat. Die Leitentscheidung hat allerdings keinerlei Auswirkungen auf das einzelne Revisionsverfahren, daher bleibt es den Parteien nach wie vor unbenommen, das Verfahren etwa durch Rücknahme oder Vergleich zu beenden.

Die Leitentscheidung dient den Instanzgerichten dann als Orientierung zur Urteilsfindung in gleichgelagerten Sachverhalten mit gleichen Rechtsfragen. Die Instanzgerichte können anhängige Parallelverfahren ab Erklärung des Bundesgerichtshofs zum Leitentscheidungsverfahren bis zur Leitentscheidung im Einverständnis mit den Parteien aussetzen.

Kritik und Ausblick

Der Ansatz der Bundesregierung geht in die richtige Richtung, zur Beschleunigung der Verfahren an den Gerichten beizutragen und dadurch Justiz und Verbraucher zu entlasten. Kritik an dem Gesetzentwurf besteht allerdings nach wie vor, denn der Entlastungseffekt hängt von weiteren Faktoren ab:

Zum einen ist relevant, in welcher Anzahl die Berufungsgerichte Revisionen oder der Bundesgerichtshof auf Nichtzulassungsbeschwerde hin Revisionen zulassen. Zum anderen hängt das Ausmaß der Entlastung davon ab, wie viele Parteien sich dazu entscheiden, sich im weiteren Verfahrensgang an den Bundesgerichtshof zu wenden. Der Referentenentwurf der Bundesregierung knüpft an den Gegenstand an, dass die Parteien beim Bundesgerichtshof anhängige Verfahren durch Vergleich oder Rücknahme der Revision verhindern können.

Dieses Problem wird durch die Einführung eines Leitentscheidungsverfahrens allerdings nur partiell gelöst. Den Parteien bleibt es unbenommen, nach der zweiten Instanz zu entscheiden, sich nicht mittels Revision oder Nichtzulassungsbeschwerde an den Bundesgerichtshof zu wenden. Die bis zur zweiten Instanz unterlegene Partei könnte in ihre Überlegungen einfließen lassen, dass durch Nichteinlegung der Revision beim Bundesgerichtshof zwar ein rechtskräftiges Urteil ergeht, gleichgelagerte Sachverhalte aber dennoch bei einer weiteren Einzelklage im Rahmen von Massenverfahren bei einem anderen Gericht anders entschieden werden können. Da in diesem Fall keine höchstrichterliche Entscheidung durch den Bundesgerichtshof vorliegt, gibt es keine klare Orientierung für die Justiz. Es stellt sich deshalb die Frage, ob Massenverfahren nicht dadurch effektiver begegnet werden könnte, dass bereits die Instanzgerichte ein Verfahren zu einem Leitentscheidungsverfahren erklären können. 

Ferner haben die Parteien nicht mehr die umfassende Verfügungsmacht über ein Verfahren, das der Bundesgerichtshof zu einem Leitentscheidungsverfahren erklärt hat. Die Parteien können eine Leitentscheidung zu dieser Rechtsfrage nicht mehr verhindern. Dies widerspricht dem in der Zivilprozessordnung verankerten Dispositionsgrundsatz. Der Dispositionsgrundsatz beinhaltet das Recht der Parteien, über den Rechtsstreit als Ganzes zu verfügen. Dies umfasst insbesondere auch das Recht, den Rechtsstreit vorzeitig, also ohne Urteil, zu beenden. Das Gegenteil vom Dispositionsgrundsatz ist die im Strafprozessrecht geltende Offizialmaxime: Danach ist der Staat Herr des Verfahrens. Eine solche Leitung des Rechtsstreits ist dem Zivilprozess bislang allerdings fremd.

Das Leitentscheidungsverfahren stellt damit neben der Musterfeststellungsklage, dem Kapitalanleger-Musterverfahren und der beabsichtigten Einführung der Abhilfeklage eine weitere Möglichkeit der zivilprozessualen Verfahrensgestaltung im Rahmen von Massenverfahren dar. Diese Mittel der kollektiven Rechtsverfolgung in Verbraucherstreitsachen eint das Ziel, die Rechtsdurchsetzung für Staat und Verbraucher effizienter und kostensparender auszugestalten. Die Musterfeststellungsklage etwa wurde in Verbraucherstreitsachen eingeführt, um bei Massenschäden durch eine Bündelung von Ansprüchen die Voraussetzungen für das Bestehen von Ansprüchen festzustellen und die zentralen Rechtsfragen vorab in einem Verfahren mit Wirkung für alle Geschädigten zu klären.

Der Bundesrat wird sich voraussichtlich Ende September 2023 mit dem Regierungsentwurf befassen.

Commercial.Restrukturierung: Maßgeblicher Prognosezeitraum für die Überschuldungsprüfung – Änderung ab dem 1. September 2023

Ausgangssituation

Der Gesetzgeber hat Ende letzten Jahres infolge des Ukraine-Kriegs und der daraus resultierenden Planungsunsicherheit insbesondere aufgrund der gestiegenen Energiekosten den bei der Überschuldungsprüfung anzuwendenden Prognosezeitraum, in dem Unternehmen ihre ausreichende Zahlungsfähigkeit für die Zukunft dokumentieren müssen, von zwölf auf vier Monate reduziert (zu den Einzelheiten s. unseren Beitrag vom 1. Februar 2023). Das Gesetz, das die Insolvenzordnung u.a. insoweit vorübergehend angepasst hat (SanInsKG), gilt bis zum 31. Dezember 2023. Hinweise für eine Verlängerung gibt es derzeit nicht.

Planungszeiträume über das Jahr 2023 hinaus

Das SanInsKG kann jedoch schon vor Ablauf der Befristung seine praktische Wirksamkeit verlieren. Steht für ein Unternehmen weniger als vier Monate vor dem 31. Dezember 2023, also ab dem 1. September 2023, fest, dass es für die ab dem 1. Januar 2024 wieder geltenden zwölf Monate für den Prognosezeitraum nach § 19 Abs. 2 S. 1 InsO nicht durchfinanziert ist, könnte dies bereits ab dem 1. September 2023 bei der Prüfung der Insolvenzantragspflicht zu berücksichtigen sein. Hierauf wurde bereits in der Gesetzesbegründung hingewiesen (BT Drucks. 20/2730 sowie BT Drucks. 20/4087). Auch nach einer vom Bundesjustizministerium (BMJ) veröffentlichten Pressemitteilung zum SanInsKG soll der befristete Prognosezeitraum bereits ab dem 1. September 2023 wieder zwölf Monate betragen. Diese Auffassung scheint auch das Institut der Wirtschaftsprüfer (IDW) in seinem neu verfassten IDW ES 11 (Rn. 106) zu teilen; jedenfalls hat sich das IDW nicht von den Aussagen in der Gesetzesbegründung bzw. der Pressemitteilung des BMJ distanziert. Wenig überraschend ist, dass die Interessenvertreter der Insolvenzverwalter die Meinung vertreten, dass ab dem 1. September 2023 wieder das „alte Insolvenzrecht“ Anwendung finde.

Unklare Rechtslage

Der Gesetzeszweck spricht zwar gegen diese Auslegung. Die Unternehmen sollten mit der Interimslösung zum verkürzten Prognosezeitraum entlastet werden. Durch eine faktische Verkürzung der Anwendbarkeit des verkürzten Prognosezeitraums würde der Gesetzeszweck konterkariert. Auch mit dem Gesetzeswortlaut („bis einschließlich 31. Dezember 2023“) ist die Auslegung kaum zu vereinbaren. Jedoch scheint der Gesetzgeber eine Befristung des verkürzten Prognosezeitraums lediglich bis zum 31. August 2023 verfolgt zu haben; anders lassen sich die jeweiligen – wenn auch kryptischen – Aussagen in den Gesetzesmaterialen und der Pressemitteilung des BMJ kaum erklären.

Für Vorstände bzw. Geschäftsführer eines Unternehmens ist es essenziell, dass sie einen präzisen Rechtsrahmen vorfinden, aus dem sich die genauen Pflichten und Fristen für die Stellung eines Insolvenzantrags zweifelsfrei ergeben. Derzeit lässt sich jedoch nicht mit der für die Insolvenzantragspflichten erforderlichen Gewissheit sagen, welcher Prognosezeitraum ab dem 1. September 2023 Anwendung findet. Den Ausgang einer gerichtlichen Klärung dieser Rechtsfrage abzuwarten, ist gerade angesichts der mit der rechtzeitigen Insolvenzantragstellung verbundenen erheblichen Haftungs- und Strafbarkeitsrisiken nicht akzeptabel.

Konsequenzen für die Geschäftsleitung

Vor diesem Hintergrund empfiehlt es sich, spätestens ab Anfang September 2023 (wieder) auf eine rollierende integrierte Unternehmensplanung mit einem Planungshorizont von zwölf Monaten als Teil der gesetzlich geforderten Überwachungssysteme des Unternehmens aufzusetzen. Die Geschäftsleitung sollte schon aus Vorsichtsgründen davon ausgehen, dass ab dem 1. September 2023 wieder der Prognosezeitraum von zwölf Monaten für die Fortbestehensprognose gilt. Sobald die Fortführung des Unternehmens nicht mehr überwiegend wahrscheinlich ist, d.h. innerhalb eines Zeitraums von zwölf Monaten Zahlungsunfähigkeit eintritt, muss unverzüglich Insolvenzantrag gestellt werden. Zur Haftungsvermeidung wegen einer möglichen zu frühen Antragstellung, sollten im Vorfeld insbesondere die Gesellschafter in die Entscheidung einbezogen werden.

Eigenverwaltungs- und Restrukturierungsplanungen

Auch für die durch das SanInsKG verkürzten Planungszeiträume für Eigenverwaltungs- und Restrukturierungsplanungen, die den Zugang zu Eigenverwaltungsverfahren und zu Stabilisierungs- und Restrukturierungsmaßnahmen erleichtern sollten, dürften ab dem 1. September 2023 wieder die bisherigen Fristen von sechs statt bisher vier Monaten maßgeblich sein.

Commercial.Singapur: „Compass“: Änderung des Vergabeverfahrens für Arbeitsgenehmigungen in Singapur

Als Full-Service Dienstleister in Asien bietet Luther seinen Mandanten über die Rechts- und Steuerberatung hinaus Dienstleistungen durch Kollegen von Luther Corporate Services an, wie z. B. die Übernahme der Funktion des in Singapur für Unternehmen vorgeschriebenen Company Secretary, eines lokal ansässigen Geschäftsführers oder des Datenschutzbeauftragten. Dazu kommen auf Wunsch auch Buchhaltung oder gewisse Funktionen der Personalabteilung.

Da die Mandatsbetreuung auch in den letzteren Bereichen stets interdisziplinär erfolgt, stehen wir unseren Mandanten dort selbstverständlich auch anwaltlich beratend zur Seite. Dies ist insbesondere dann wichtig, wenn gesetzliche Änderungen umzusetzen sind oder bisher gewohnte Prozesse der Singapurer Behörden maßgeblich geändert werden.

In diesem Zusammenhang sehr aktuell ist die zum 1. September 2023 in Kraft tretende Änderung des Vergabeverfahrens für Arbeitsgenehmigungen in Singapur.

Das ab dem 1. September 2023 geltende „Complementarity Assessment Framework“ erhielt den Kurznamen „Compass“. Es wird mit Spannung erwartet, ob das neue Vergabesystem seinem Namen entsprechend richtungsweisend sein wird – oder sich die derzeit bei unseren Mandanten bestehende Skepsis bewahrheitet.

Zusammenfassend löst Compass das bisher maßgeblich auf das Gehalt eines Bewerbers konzentrierte Bewerbungsverfahren um eine Arbeitserlaubnis ab. Stattdessen werden Bewerber zukünftig zusätzlich zu dem erforderlichen Grundgehalt verstärkt an ihrer Qualifikation gemessen und daran, ob diese einen Bedarf in Singapur abdeckt, der mit lokalen Arbeitskräften nicht erreicht wird. Neben dem in Singapur ausgeprägten Bereich der Financial Services sind derzeit Qualifikationen in den Bereichen Agrotechnik, Green Economy, Healthcare und Schiffsfahrt von großem Interesse. Da Singapurs ohnehin stark ausgeprägte Digitalisierung in großen Schritten weiter voranschreitet, und Singapur sich weiter als Excellenz-Zentrum in Südostasien behaupten möchte, besteht das größte Interesse an Mitarbeitern im Bereich der InfoComm Technologies.

In Ergänzung zu der persönlichen Bewertung der Bewerber werden zukünftig auch deren potentielle Arbeitgeber in Singapur – und mithin unsere Mandanten - geprüft. Dabei gilt besonderes Augenmerk der Frage, ob und wieweit der Arbeitgeber den lokalen Arbeitsmarkt unterstützt, er divers aufgestellt ist und ob er zur Erreichung der strategisch ökonomischen Ziele Singapurs beiträgt.

Full-Service Beratung in allen wesentlichen Rechtsgebieten

Luther ist die mit Abstand größte kontinentaleuropäische Rechtsanwaltskanzlei in Südostasien mit Standorten in Singapur, Indonesien, Malaysia, Thailand, Vietnam und Myanmar. Alle diese Standorte bieten unseren Mandanten interdisziplinäre Beratung und sind eng miteinander vernetzt.

Wir begleiten standortübergreifend Unternehmen und deren Stakeholder „von der Wiege bis zur Bahre“ – ob bei der Gründung von Repräsentanz, Zweigniederlassung oder eigenständiger Gesellschaft, sämtlichen gesellschaftsrechtlichen Fragen, dem Aufbau eines Vertriebsnetzes, der Ansiedlung an einem Produktionsstandort oder jegliche Formen von Unternehmenszusammenschlüssen. Daneben beraten wir vereinzelt in privaten Angelegenheiten, wie etwa in steuer-, erb- oder familienrechtlichen Fragen. Die Beratung durch unsere Kollegen mit deutschem, französischem, spanischem, belgischem, österreichischem, türkischem oder schweizerischem Hintergrund erfolgt dabei stets in enger Kooperation mit unseren lokalen Anwaltskollegen und Partnern. Unsere Tätigkeitsschwerpunkte liegen in den Bereichen

Compliance;

Arbeitsrecht;

Investment;

Gewerblicher Rechtsschutz;

Handels- und Vertriebsrecht;

Litigation;

M&A;

Steuern;

Datenschutz; und

Immigration.

Ziel unserer Beratung und Begleitung ist das für unsere Mandanten wirtschaftlich beste Ergebnis. Sollte dies nicht in der direkten Verhandlung mit Vertragspartnern oder Behörden zu erzielen sein, begleiten wir unsere Mandanten bei den dann durchzuführenden Mediations-, Schiedsgerichts- und Gerichtsverfahren.

Commercial.Restrukturierung: Nächster Schritt in Richtung einer europaweiten Harmonisierung des Insolvenzrechts

EU-Kommission legt Entwurf einer EU-Richtlinie vor – Bundesrat bewertet die Einführung eines vereinfachten Liquidationsverfahrens für zahlungsunfähige Kleinstunternehmen kritisch.

Die EU-Kommission veröffentlichte am 7. Dezember 2022 einen „Vorschlag für eine Richtlinie des europäischen Parlaments und des Rats zur Harmonisierung bestimmter Aspekte des Insolvenzrechts“ (COM(2022) 702 final). Der Vorschlag zielt auf ein Vorantreiben der Umsetzung der Kapitalmarktunion ab, die als ein Schlüsselprojekt für die weitere finanzielle und wirtschaftliche Integration innerhalb der Europäischen Union angesehen wird. Bislang haben der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss, der Europäische Datenschutzbeauftrage sowie zwei EU-Mitgliedstaaten (Portugal und Tschechien) zu dem RiLi-Vorschlag Stellung genommen. Die erste Lesung im EU-Parlament steht noch aus.

Mindestvorgaben zu Insolvenzanfechtungsklagen

Der RiLi-Vorschlag (Art. 4 ff.) enthält detaillierte Mindestvorgaben zu Insolvenzanfechtungsklagen. Der anfechtungsrelevante Zeitraum bei der Schenkungsanfechtung soll ein Jahr betragen und Anfechtungsansprüche sollen erst drei Jahre nach Verfahrenseröffnung verjähren. Der Vierjahreszeitraum des § 134 Abs. 1 InsO und die dreijährige Verjährungsfrist gemäß §§ 146 InsO, 195, 199 BGB (beginnend mit dem Ende des Jahres der Verfahrensöffnung) liegen über den Mindestvorgaben des RiLi-Vorschlags. Es sind keine Anpassungen des in §§ 129 ff. InsO kodifizierte Anfechtungsrechts zu erwarten.

EU-weite Registereinsichtsrechte

Der RiLi-Vorschlag (Art 13 ff.) sieht grenzüberschreitende Registereinsichtsrechte zum Aufspüren von massezugehörigen Vermögenswerten („Asset Tracing“) vor. Insolvenzgerichte sollen befugt sein, das inländische Bankkontoregister abzufragen und auf Antrag des Insolvenzverwalters in Bankkontoregister anderer EU-Mitgliedstaaten einzusehen, falls die Einsichtnahme zur Ermittlung massezugehöriger Vermögenswerte erforderlich ist. Der Insolvenzverwalter soll Zugang zum inländischen Transparenzregister und zu Vermögensregistern anderer EU-Mitgliedstaaten (z. B. Grundbücher, Fahrzeug-, Schiffs-, und Flugzeugregister) erhalten. Es sind Anpassungen zu erwarten. Die Insolvenzordnung sieht solche Einsichtsrechte bislang nicht vor.

Einführung eines Pre-Pack-Verfahrens

Ein Schwerpunkt des RiLi-Vorschlags (Art. 19 ff.) ist die Einführung eines Pre-Pack-Verfahrens, das übertragende Sanierungen erleichtern soll und in weiten Zügen die gelebte M&A-Praxis widerspiegelt. Das Pre-Pack-Verfahren soll Vertragsverhandlungen und Übernahmevorbereitungen vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens („preparation phase“) ermöglichen, sodass die Unternehmensübertragung in einem verkürzten Verfahren unmittelbar nach Öffnung des Insolvenzverfahrens umgesetzt werden kann („liquidation phase“). Es sind Anpassungen der Insolvenzordnung zu erwarten.

Insolvenzantragspflicht und Geschäftsführerhaftung

Gemäß dem RiLi-Vorschlag (Art. 36 f.) soll die Geschäftsleitung einer juristischen Person zur Insolvenzantragstellung innerhalb von drei Monaten nach Kenntnis bzw. nach Kennenmüssen einer Zahlungsunfähigkeit verpflichtet werden. Der Vorschlag sieht außerdem eine Haftung der Geschäftsleitung bei Verletzung der Insolvenzantragspflicht vor. Die Regelungen in §§ 15a Abs. 1 Satz 2, 15b Abs. 4 InsO entsprechen den Mindestvorgaben, ­sodass Anpassungen der Insolvenzordnung nicht zu erwarten sind.

Liquidationsverfahrens für zahlungsunfähige Kleinstunternehmen

Ein weiterer Schwerpunkt des RiLi-Vorschlags (Art. 38 ff.) ist die Einführung eines vereinfachten Liquidationsverfahrens für zahlungsunfähige Kleinstunternehmen, d. h. solche mit weniger als zehn Arbeitnehmern und jährlichem Umsatz oder Bilanzsumme bis EUR 2 Mio.(2003/361/EG, Artikel 2 Abs. 3). Das Insolvenzgericht soll das Verfahren standardisiert auf elektronischem Wege durchführen. Das Verfahren soll auch ohne kostendeckende Masse eröffnet werden. Der RiLi-Vorschlag sieht die Bestellung eines Insolvenzverwalters nur auf Antrag des Schuldners, eines Gläubigers oder einer Gläubigergruppe vor und nur wenn die Vergütung des Insolvenzverwalters durch die Insolvenzmasse oder einen Kostenvorschuss gedeckt ist. Die von dem Schuldner im Insolvenzantrag angegebenen Gläubigerforderungen sollen grundsätzlich als angemeldet und anerkannt gelten. Die Vermögensverwertung soll durch das Insolvenzgericht im Zuge von Onlineversteigerungen erfolgen.

Gläubigerausschüsse

Der RiLi-Vorschlag (Art. 58 ff.) enthält Mindestvorgaben zu Arbeitsweise, Aufgaben, Rechten, Pflichten, Befugnissen, Vergütungen und Haftungen von Gläubigerausschüssen. Die Mitglieder des Gläubigerausschlusses haften nach aktueller Rechtslage schon bei leichter Fahrlässigkeit, wohingegen der RiLi-Vorschlag eine Haftung erst bei grober Fahrlässigkeit und Vorsatz vorsieht. Eine schärfere Haftung ist aber möglich, weil der RiLi-Vorschlag Mindestvorgaben enthält. Die Regelungen in §§ 56a Abs. 2, 67 ff., 160 InsO decken die Mindestvorgaben ab. Anpassungen der Insolvenzordnung sind nicht zu erwarten.

Merkblätter zu nationalen Regelungen in den EU-Mitgliedsstaaten

Zum Schluss sieht der RiLi-Vorschlag (Art. 68) vor, dass jeder EU-Mitgliedstaat ein klar, nicht fachlich und verständlich formuliertes Merkblatt mit den wesentlichen Informationen zu seinem Insolvenzrecht (Eröffnung, Forderungsanmeldung und -prüfung, Forderungsrangfolge, Verteilungsprozess, Verfahrensdauer) bereitstellt, das auf dem europäischen ­e-Justice Portal veröffentlicht wird.

Kritik des Bundesrats am Richtlinienvorschlag

Der Bundesrat begrüßt zwar in seiner Stellungnahme vom 30. März 2023 (BR-Drucksache 25/23) die mit dem Vorschlag verfolgten Harmonisierungsziele und die auf Mindestvorgaben basierende Regelungstechnik. Er sieht aber insbesondere die Einführung eines vereinfachten Liquidationsverfahrens kritisch und lehnt es im Wesentlichen mit folgenden Argumenten ab:

Ein Verfahren ohne Insolvenzverwalter würde der Ordnungsfunktion und den Gläubigerinteressen widersprechen. Es würde die ordnungsgemäße Verfahrensdurchführung und die Befriedigungsaussichten der Gläubiger beeinträchtigen. Das rechtsstaatliche Insolvenzverfahren mit seinen besonderen Kontrollen durch Gerichte, Insolvenzverwalter und Gläubigergremien würde in den Hintergrund gedrängt.

Der Bundesrat bezweifelt, ob sich die Befriedigungsquote der Gläubiger erhöhen würde. Die Einschränkung der Geltendmachung von Anfechtungsansprüchen und das Fehlen eines Insolvenzverwalters, der massezugehörige Vermögenswerte ermittelt, würde mögliche Massezuflüsse verhindern. Es würden Anreize für die Geschäftsleitung abgebaut, möglichst frühzeitig einen Insolvenzantrag zu stellen.

Das Verfahren würde Aufgabenfelder des Insolvenzverwalters auf das Insolvenzgericht verlagern und zu einer erheblichen Mehrbelastung der Justiz führen. Die Justiz müsste ihre personellen Ressourcen erweitern und die notwendige Infrastruktur aufbauen. Die Mehrbelastungen des Justizhaushalts würden nicht in einem angemessenen Verhältnis zu den Einsparungen der Insolvenzverwaltervergütungen stehen. Insolvenzgerichte würden übergebührlich in Anspruch genommen werden, wenn sie für die Verwertung der Vermögenswerte und die Verteilung des Erlöses zuständig wären. Dafür sei das Gerichtspersonal weder ausgebildet noch ausgestattet.

Das Liquidationsverfahren soll nach Ansicht des Bundesrats nur bei Verfahrenskostendeckung durchgeführt werden. Angesichts der ansonsten drohenden Mehrbelastung für die Staatskasse sollte an der Grundkonzeption festgehalten werden, wonach der Insolvenzantrag mangels Masse abgewiesen und die Gesellschaft aus dem Register gelöscht wird.

Zur weiteren Entwicklung

Die EU-Richtlinie wird voraussichtlich nicht in der aktuell vorliegenden Entwurfsfassung verabschiedet werden. Mit Änderungen ist zu rechnen. Der tatsächliche Inhalt der verabschiedeten EU-Richtlinie bleibt abzuwarten. Anschließend wird der deutsche Gesetzgeber die verabschiedete EU-Richtlinie in nationales Insolvenzrecht umzusetzen haben. Spannend bleibt, wie er dabei seine Gestaltungsspielräume nutzen wird.

Ihr/e Ansprechpartner
Dr. Marcus Backes

Dr. Marcus Backes
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Dr. Christoph von Burgsdorff, LL.M. (Essex)

Dr. Christoph von Burgsdorff, LL.M. (Essex)
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Dr. Kuuya Josef Chibanguza, LL.B.

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Dr. Steffen Gaber, LL.M. (Sydney)

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Dr. Thomas Hufnagel

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Dr. Boris Ober
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Artur Winkler

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Jan Zimmer

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Luisa Kramer

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Benedikt Stücker

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