17.07.2023

Einführung eines Leitentscheidungsverfahrens am BGH – Effiziente Bewältigung von Klagewellen?

Ausgangslage

Massenhafte Einzelklagen zur gerichtlichen Geltendmachung gleichgelagerter Ansprüche (z. B. im Rahmen der sogenannten Dieselverfahren oder aufgrund unzulässiger Klauseln in Bank- oder Versicherungsverträgen) stellen die deutschen Zivilgerichte vor große Herausforderungen. Klagewellen können durch die Instanzgerichte meist erst dann zügig und effizient bewältigt werden, wenn die entscheidungserheblichen Rechtsfragen höchstrichterlich geklärt sind. Höchstrichterliche Entscheidungen lassen bisweilen jedoch lange auf sich warten. Hinzu kommt, dass der Weg zum Aufstellen von Leitlinien durch den Bundesgerichtshof (BGH) oftmals von den Parteien durch Rücknahme von Revisionen aus prozesstaktischen Gründen oder anderweitige Erledigung (z. B. durch Vergleich) versperrt wird.

Das Bundesministerium der Justiz (BMJ) setzt sich mit dem Gesetzentwurf zur Einführung eines Leitentscheidungsverfahrens zum Ziel, Masseverfahren zukünftig effizienter und schneller zu bewältigen. Zur Erreichung dieses Ziels sollen höchstrichterliche Entscheidungen zu Rechtsfragen, die für eine Vielzahl einzelner Rechtsstreitigkeiten erheblich sind, frühzeitig durch ein Leitentscheidungsverfahren beim BGH herbeigeführt werden. Insbesondere die Rücknahme oder anderweitige Erledigung von Revisionen soll einer höchstrichterlichen Klärung künftig nicht mehr entgegenstehen.

Ablauf des Leitentscheidungsverfahrens

Nach dem vom BMJ vorgelegten Gesetzentwurf soll der BGH zukünftig die Möglichkeit haben, aus den bei ihm anhängigen gleichgelagerten Revisionen ein Verfahren mit einem möglichst breiten Spektrum von offenen Rechtsfragen durch Beschluss zum Leitentscheidungsverfahren zu bestimmen (§ 552b S. 1 ZPO-E). Die Bestimmung eines Leitentscheidungsverfahrens ist jedoch erst nach Eingang einer Revisionserwiderung oder nach Ablauf einer zur Revisionserwiderung gesetzten Frist möglich (§ 552b S. 1 ZPO-E).

Ab dem Zeitpunkt, in dem der BGH ein Leitentscheidungsverfahren bestimmt hat, haben die Instanzgerichte die Möglichkeit, gleichgelagerte Verfahren bis zur Leitentscheidung auszusetzen – dies jedoch nur mit Zustimmung der Parteien (§ 148 Abs. 4 ZPO-E).

Endet das Leitentscheidungsverfahren nun ohne ein mit inhaltlicher Begründung versehenes Urteil (beispielsweise weil die Parteien die Revision zurücknehmen oder sich das Revisionsverfahren auf andere Weise erledigt), trifft der BGH durch Beschluss eine Leitentscheidung. Die Leitentscheidung des BGH entfaltet dabei jedoch keine formale Bindungswirkung, dient den Instanzgerichten und der Öffentlichkeit also bloß als Richtschnur und Orientierungshilfe.

Bewertung

Der Gesetzentwurf zum Leitentscheidungsverfahren tritt neben eine Reihe vom Gesetzgeber getroffener Maßnahmen zur Bewältigung von Masseverfahren wie der Musterfeststellungsklage nach §§ 606 ff. ZPO und der EU-Verbandsklagerichtlinie. Die ungebrochene gesetzgeberische Tätigkeit verdeutlicht, dass die Bewältigung von Masseverfahren hohe gesetzgeberische Priorität hat. Ob der Gesetzentwurf zum Leitentscheidungsverfahren die gewünschte Effizienzsteigerung bei Bewältigung von Masseverfahren mit sich bringt, bleibt jedoch fraglich.

Zur effizienten Erledigung von Masseverfahren ist eine frühe Leitentscheidung und Orientierung für die Instanzgerichte erforderlich. Eine frühzeitige Aufstellung von Leitlinien durch den BGH lässt der Gesetzentwurf allerdings nicht erwarten. Denn der BGH kann ein Verfahren erst dann zum Leitentscheidungsverfahren auserwählen, wenn der Rechtsstreit beide Vorinstanzen durchlaufen hat, was enorme Zeit in Anspruch nehmen kann. Bei neu anrollenden Klagewellen dürften die Instanzgerichte somit zunächst lange Zeit auf eine Leitentscheidung warten müssen. Aussetzen können sie die bei ihnen anhängigen Verfahren zunächst nicht, denn nach dem neu einzufügenden § 148 Abs. 4 ZPO-E soll dies erst ab Beginn des Leitentscheidungsverfahrens und auch nur mit Zustimmung beider Parteien möglich sein.

Auch ein weiteres mit dem Gesetzentwurf verfolgtes Ziel, nämlich eine Leitentscheidung unabhängig vom Verhalten der Parteien herbeiführen zu können, scheint verfehlt. Der Beginn eines Leitentscheidungsverfahrens setzt den Eingang einer Revisionserwiderung beim BGH oder den Ablauf einer zur Revisionserwiderung gesetzten Frist voraus. Die Parteien haben somit durchaus die Möglichkeit, eine Leitentscheidung des BGH aus prozesstaktischen Gründen zu verhindern, indem sie beispielsweise den Rechtsstreit in der Vorinstanz beenden.

Um tatsächlich eine effiziente und schnelle Bewältigung von Masseverfahren zu gewährleisten, müsste der Gesetzentwurf somit früher ansetzen, nämlich bei Eingang der Rechtsstreitigkeiten bei den Instanzgerichten. Denkbar wäre es, den Instanzgerichten bereits bei Beginn einer Klagewelle die Möglichkeit zu gewähren, dem BGH ein Verfahren zur Vorab- bzw. Leitentscheidung vorzulegen. Dies hätte den Vorteil, bereits in einem sehr frühen Stadium und unabhängig von dem Verhalten der Parteien des Rechtsstreits eine Leitentscheidung herbeiführen zu können. Der Vorlage ungeeigneter Verfahren beim BGH könnte durch Normierung einer Zurückweisungsmöglichkeit des BGH durch Beschluss begegnet werden.

Ausblick

Der Gesetzentwurf zur Einführung eines Leitentscheidungsverfahrens stieß nach Veröffentlichung auf große Kritik, so beispielsweise beim Deutschen Richterbund, der sich in einer Stellungnahme für eine grundlegende Überarbeitung des Entwurfs ausspricht. Es bleibt abzuwarten, inwiefern der Gesetzgeber der Kritik begegnen wird. Sollte es bei den derzeitigen Regelungen bleiben, stellt der Gesetzentwurf allenfalls einen kleinen Baustein zur Bewältigung von Masseverfahren dar.