08.10.2021

EuGH-Urteil zum Kartellschadensersatzrecht: Kinder haften für ihre Eltern!

Hintergrund

In der Rechtssache Sumal hat die Große Kammer des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) in ihrem Urteil vom 6. Oktober 2021 entschieden, dass das Konzept der wirtschaftlichen Einheit in zivilrechtlichen Kartellschadensersatzverfahren nicht nur für eine Haftungsbegründung im Konzern „nach oben“ anzuwenden ist (Mütter haften für das Fehlverhalten ihrer Tochtergesellschaften, bottom up), sondern auch für die Begründung der Haftung „nach unten“ (Tochtergesellschaften haften für ihre Konzernmütter, top down). Der EuGH schließt sich damit weitgehend den Schlussanträgen des Generalanwalts Giovanni Pitruzzella an. Damit können Kartellgeschädigte bei grenzüberschreitenden Sachverhalten – unter vom EuGH definierten Voraussetzungen – nicht nur gegen Kartellanten selbst vorgehen, sondern auch gegen deren Tochtergesellschaften (EuGH, Urt. v. 06.10.2021, Rs. C-882/19 – Sumal, S.L./Mercedes Benz Trucks España, S.L., abrufbar hier). Diese Grundsatzentscheidung weitet die bisherige Rechtsprechung im Bereich der Haftung der „wirtschaftlichen Einheit“ erheblich aus – und wird weitreichende, noch nicht abschätzbare Konsequenzen für sämtliche Wirtschaftsbereiche haben.

Ausgangspunkt: Haftung der spanischen Tochter für einen Verstoß der deutschen Mutter?

Der spanische Containerhersteller Sumal, S.L. (Sumal) verklagte Mercedes Benz Trucks España, S.L. (MBTE), eine spanische Tochtergesellschaft der deutschen Daimler AG, auf Schadensersatz. Sumal stützte sich dafür auf die im Jahr 2016 ergangenen Bußgeldbescheide gegen die Teilnehmer des LKW-Kartells. Damals hatte die Europäische Kommission gegen Daimler und andere LKW-Hersteller u.a. wegen Preisabsprachen Geldbußen von insgesamt EUR 2,93 Mrd. verhängt. Das spanische Gericht der ersten Instanz hatte die Klage als unzulässig mit der Begründung abgewiesen, MBTE könne nicht Schuldnerin des Schadensersatzanspruches sein (es fehle also die Passivlegitimation). Begründet wurde dies damit, dass nicht MBTE den Kartellrechtsverstoß begangen habe, sondern Daimler als Muttergesellschaft des Konzerns, und MBTE insofern auch nicht Adressatin der Bußgeldentscheidung der Europäischen Kommission gewesen sei. Aufgrund divergierender Urteile spanischer Gerichte zur Frage der Passivlegitimation legte das Berufungsgericht dem EuGH die Frage zur Vorabentscheidung vor, ob Tochtergesellschaften bei sog. follow-on Klagen für den im Bußgeldbescheid festgestellten Kartellrechtsverstoß der Muttergesellschaft haften, wenn sie nicht Adressaten des Bußgeldbescheids waren, jedoch zu 100 % von der bebußten Muttergesellschaft gehalten werden (Vorabentscheidungsersuchen der Audiencia Provincial de Barcelona (Spanien) v. 03.12.2019, Rs. C-882/19 – Sumal, S.L./Mercedes Benz Trucks España, S.L., abrufbar hier).

Schlussanträge des Generalanwalts Pitruzzella

In seinen Schlussanträgen vom 15. April 2021 plädierte Generalanwalt Giovanni Pitruzzella dafür, dass die Tochtergesellschaft zumindest dann zivilrechtlich für Verstöße der Muttergesellschaft haften müsse („absteigende“ Haftung oder top down), wenn die Tochtergesellschaft für die Verwirklichung des wettbewerbswidrigen Verhaltens „gewissermaßen […] erforderlich“ sei (z.B. weil die Tochtergesellschaft die kartellbefangenen Güter verkaufe). Die Tochtergesellschaft müsse daher in demselben Bereich tätig sein, in dem sich die Muttergesellschaft wettbewerbswidrig verhalten habe, und durch ihr Marktverhalten die Konkretisierung der Auswirkungen der Zuwiderhandlung ermöglicht haben. Der Generalanwalt folgerte dies aus dem Konzept der wirtschaftlichen Einheit, welches in gefestigter Rechtsprechung des EuGH im Bußgeldbereich für kontrollierende Muttergesellschaften anerkannt ist und bei bestimmender Einflussnahme zu einer „aufsteigenden“ (bottom up) Haftung für Kartellrechtsverstöße – und deren administrative Sanktionierung – führt (zu den Schlussanträgen siehe bereits unseren Blogbeitrag).

Bestätigung durch den EuGH

Die große Kammer des EuGH schloss sich am 6. Oktober 2021 dem Votum des Generalanwalts an. Nach Auffassung der Gerichtshofs können Kartellgeschädigte ihre Ansprüche im Falle eines Verstoßes gegen das Kartellverbot nach Art. 101 AEUV nicht nur gegen eine bebußte Muttergesellschaft, sondern auch gegen eine Tochtergesellschaft richten, auch wenn sie nicht Adressatin des Bußgeldbescheids ist. Ausreichend ist, dass Mutter- und Tochtergesellschaft eine wirtschaftliche Einheit bilden. Voraussetzung für die Annahme einer solchen wirtschaftlichen Einheit sei das Vorliegen einer einheitlichen Organisation persönlicher, materieller und immaterieller Mittel, die dauerhaft einen bestimmten Zweck verfolgt sowie das Bestehen eines konkreten Zusammenhangs zwischen der wirtschaftlichen Tätigkeit der Tochtergesellschaft und dem Gegenstand der festgestellten Zuwiderhandlung.

Es müsse aber, so der Gerichtshof, gewährleistet sein, dass die betreffende Tochtergesellschaft ihre Verteidigungsrechte sachdienlich ausüben kann, um nachweisen zu können, dass sie nicht zur selben wirtschaftlichen Einheit wie die Mutter gehöre. Wenn der Kartellrechtsverstoß nicht durch Bußgeldbescheid festgestellt sei, sei die Tochtergesellschaften auch berechtigt, das Vorliegen des Verstoßes selbst zu bestreiten. Schließlich entschied der EuGH, Art. 101 AEUV stehe einer nationalen Regelung entgegen, welche die Möglichkeit vorsehe, die Haftung für das Verhalten einer Gesellschaft einer anderen Gesellschaft nur dann zuzurechnen, wenn die zweite Gesellschaft die erste Gesellschaft kontrolliere. Mit anderen Worten: das nationale Recht muss gewährleisten, dass die Tochter für die Mutter haften könne.

Der Gerichtshof begründet seine Entscheidung – wie auch schon in der Rechtssache Skanska (EuGH, Urt. v. 14. März 2019, Rs. C-724/17 – Skanska, abrufbar hier) – insbesondere damit, dass Schadensersatzklagen wegen Verstoßes gegen EU-Kartellrecht (private enforcement) neben der öffentlich-rechtlichen Durchsetzung des EU-Kartellrechts durch die Behörden (public enforcement) einen integralen Bestandteil des Systems zur Durchführung dieser Vorschriften bilden, das darauf abziele, wettbewerbswidriges Verhalten der Unternehmen zu ahnden und diese von der Beteiligung an solchem Verhalten abzuhalten. Daraus folge, dass der Begriff „Unternehmen“ im Sinne von Art. 101 AEUV im Bußgeldrecht keine andere Bedeutung haben könne als bei Schadensersatzansprüchen wegen Kartellverstößen. Dort ist in gefestigter unionsrechtlicher Rechtsprechung der Begriff des „Unternehmen“ im Sinne von Art. 101 AEUV als jede Einheit zu verstehen, die eine wirtschaftliche Tätigkeit ausübt, unabhängig von ihrer Rechtsform und der Art ihrer Finanzierung. Dies führt regelmäßig zur gesamtschuldnerischen Haftung von Konzernobergesellschaften für Kartellrechtsverstöße, wobei der EuGH betont, dass es nicht um die Zurechnung fremden Verschuldens gehe, sondern eben das eigene Verschulden der wirtschaftlichen Einheit, im Rahmen derer verschiedene Gesellschaften agieren.

Konsequenzen der Entscheidung für die Geltendmachung von Schadenersatzansprüchen

Der EuGH hat ausgeführt, dass bei einer festgestellten kartellrechtlichen Zuwiderhandlung einer Muttergesellschaft es dem Geschädigten dieser Zuwiderhandlung freistehe, anstelle der Muttergesellschaft eine ihrer Tochtergesellschaften zivilrechtlich haftbar zu machen. Dafür müsse der Geschädigte in zweierlei Hinsicht eine wirtschaftliche Einheit von Mutter und Tochter nachweisen:

  • zum einen im Hinblick auf die wirtschaftlichen, organisatorischen und rechtlichen Bindungen zwischen diesen beiden Gesellschaften
  • zum anderen im Hinblick auf das Bestehen eines konkreten Zusammenhangs zwischen der wirtschaftlichen Tätigkeit dieser Tochtergesellschaft und dem Gegenstand der festgestellten Zuwiderhandlung der Muttergesellschaft.

Mit Blick auf die Bindungswirkung von Kommissionsentscheidungen (bzw. nationalen Behörden und Gerichten, siehe Art. 16 VO 1/2003 und § 33b GWB) bezüglich der festgestellten Zuwiderhandlung, dürfte in der Praxis ein entsprechender Nachweis bei klar konzernzugehörigen Tochter(vertriebs)gesellschaften, die im selben (kartellierten) Produktmarkt tätig sind wie die Konzernmutter, keine allzu großen Hürden für klagende Geschädigte bedeuten.

Weitere Einordnung und Ausblick

Durch das Urteil führt der EuGH eine neue Facette der „Unternehmenshaftung“ ein, die – ergänzend zur bisherigen Rechtsprechung zur Konzernhaftung im Bußgeldrecht und durch Skanska im Zivilschadenersatzrecht – nunmehr auch die zivilrechtliche top down-Haftung begründet. Damit „durchsticht“ der Gerichtshof ein weiteres Mal den „gesellschaftsrechtlichen Schleier“ (piercing the corporate veil) entgegen der Grundkonzeption in vielen nationalen Rechtsordnungen, welche eine Durchgriffshaftung zwischen Gesellschaften (auch desselben Konzerns) nur unter sehr engen Voraussetzungen anerkennt (sog. Trennungs- bzw. Rechtsträgerprinzip).

Die gesamtschuldnerische Haftung einer Muttergesellschaft für den Kartellrechtsverstoß ihrer Tochtergesellschaft ist dabei auf EU-Ebene bußgeldrechtlich seit Langem anerkannt (EuGH, Urt. v. 18. September 2009, Rs. C-97/08 – Akzo Nobel). Auch der deutsche Gesetzgeber ist dem gefolgt und hat im Jahr 2017 entsprechende Regeln zur Konzernmutterhaftung durch die 9. GWB-Novelle eingeführt. In der Rechtssache Skanska hatte der EuGH die Rechtsprechung zur wirtschaftlichen Einheit auf das Kartellschadensersatzrecht übertragen, allerdings seine Ausführungen ausdrücklich auf den dort in Rede stehenden Fall der Rechtsnachfolge begrenzt (die an sich haftende Gesellschaft war liquidiert worden und der neue Träger desselben Unternehmens hätte nach nationalem Recht nicht in Anspruch genommen werden können). Da die Argumentation des EuGH jedoch maßgeblich darauf basierte, dass die wirtschaftliche Einheit als Ganzes hafte, sah ein Teil der kartellrechtlichen Literatur bereits das Skanska-Urteil als Beleg dafür, dass sich die zivilrechtliche Haftung der Tochtergesellschaft auf die Muttergesellschaft erstrecke und vice versa.

Eine Haftungserstreckung setzt jedoch nach den Grundsätzen des Akzo Nobel-Urteils voraus, dass die Muttergesellschaft einen bestimmenden Einfluss auf die Tochtergesellschaft ausüben kann. Im umgekehrten Verhältnis existiert ein solcher Einfluss jedoch nicht. Nach der aktuellen Entscheidung des EuGH ist er aber auch nicht erforderlich. Schon die Zugehörigkeit zur selben wirtschaftlichen Einheit sowie das (damit einhergehende) Bestehen eines konkreten Zusammenhangs zwischen der wirtschaftlichen Tätigkeit der Tochtergesellschaft und der festgestellten Zuwiderhandlung der Muttergesellschaft sollen die Haftungserstreckung begründen.

Stärkung des EU-Kartellrechts – aber viele Unklarheiten bleiben

Das Urteil ist ein weiterer Beleg dafür, dass die private Rechtsdurchsetzung integraler Bestandteil der Durchsetzung des EU-Kartellrechts ist. Ob der EuGH mit dieser Begründung auch Schwestergesellschaften füreinander haften lassen möchte, hat er nicht ausdrücklich festgestellt. Die Erwägungen deuten jedoch darauf hin, dass auch eine solche Haftungserstreckung unter den oben dargestellten Voraussetzungen möglich ist.

Offen ist zudem, wie Konstellationen zu bewerten sind, in denen berechtigte Eigentums- und Investitionsinteressen Dritter betroffen sind. Wenn bspw. Mutter- und Tochtergesellschaft zwar zur selben wirtschaftlichen Einheit gehören, die Mutter jedoch nicht alle Anteile an der Tochter hält, berührt die vom EuGH entschiedene Haftungserstreckung auch die Interessen von Minderheitsgesellschaftern. Würde die Tochtergesellschaft in einem solchen Fall als Haftungssubjekt herangezogen, wären die Minderheitsgesellschafter der Tochtergesellschaft erheblichen finanziellen Risiken für Handlungen ausgesetzt, von denen die Tochtergesellschaft möglicherweise selbst keine Kenntnis hatte und die zudem dem Einfluss dieser Anteilseigner gänzlich entzogen sind. Den Urteilserwägungen ist nicht zu entnehmen, ob sich der EuGH hierzu Gedanken gemacht hat. Wirtschaftlich ist dies aber von großer Bedeutung und es stellt sich für Minderheitsgesellschafter künftig die Frage, wie sie den Wert ihrer Beteiligung schützen können.

Die Entscheidung könnte aber auch noch ganz andere Folgen für sämtliche Wirtschaftsteilnehmer mit sich bringen. Zu denken ist etwa an Erwerbs-/Veräußerungsprozesse von Gesellschaften (M&A). Mit Blick auf das Urteil aus Luxemburg müssen künftig in gesellschaftsrechtlichen Kaufverträgen auch spätere Haftungsszenarien abgebildet werden: Veräußert eine (kartellbeteiligte) Muttergesellschaft ihre (vom Kartellrechtsverstoß nichts wissende) Tochtergesellschaft an einen Dritten, birgt der Erwerbsprozess für die Käuferin und neue Eigentümerin Risiken, die sich allein durch eine gründliche rechtliche Bewertung der Zielgesellschaft als solcher (Due Diligence) nicht mehr abmildern lassen. Entsprechende Haftungsfreistellungen und Garantien dürften daher zumindest in Konstellationen, in denen eine nachträgliche Haftungserstreckung auf das Erwerbsobjekt nach Maßgabe der EuGH-Kriterien denkbar sind, unverzichtbar werden. Vor diesem Hintergrund gewinnt vor allem die Strukturierung der Transaktion (insbesondere interne Ausgleichsregelungen, Garantien, Freistellungen etc.) weiter an Bedeutung für Erwerber.

Kartellanten werden jedenfalls mit gewisser Besorgnis beobachten, ob Geschädigte wegen der nunmehrigen Anerkennung der top down-Haftung durch den EuGH zu ihrem Vorteil gezielt bestimmte Gerichtsstände aufsuchen werden (sog. forum shopping) und welches Recht dann zur Anwendung kommt, gibt es doch – trotz einer gewissen Vereinheitlichung durch die Umsetzung der Richtlinie 2014/104/EU – Unterschiede in den nationalen Schadenersatznormen und der Gerichtspraxis der einzelnen EU-Mitgliedstaaten (bspw. klar definierte Vermutungsregelungen zur Höhe des Kartellschadens, etwa in Ungarn, Lettland oder Rumänien). Die Rechtsprechung wird hierzu auch eine Reihe von bisher ungeklärten Fragen zu beantworten haben (etwa zu Verjährungsregelungen, die in den EU-Mitgliedstaaten teilweise erheblich voneinander abweichen).

Die durch das Urteil geschaffene Haftungserweiterung dürfte jedenfalls die Bereitschaft von Unternehmen, im Rahmen von sog. Kronzeugenanträgen kartellrechtswidriges Verhalten gegenüber Behörden offenzulegen, eher weiter sinken lassen. Kartellbehörden wie das Bundeskartellamt sehen diese Entwicklung zunehmend mit Sorge und denken laut über die zivilrechtliche Freistellung von Kronzeugen nach. Die Diskussion über das richtige Verhältnis zwischen public und private enforcement dürfte durch die Entscheidung zumindest weiter an Fahrt aufnehmen. Optimistisch betrachtet könnten all diese Unwägbarkeiten jedenfalls dazu führen, dass das Thema „Kartellrechts­compliance“ von Unternehmen noch ernster genommen wird als bisher, was sicherlich zu begrüßen wäre.

Autor/in
Dr. Borbála Dux-Wenzel, LL.M.

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Dr. Sebastian Felix Janka, LL.M. (Stellenbosch)

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