27.05.2025

Vertriebskartellrecht: EuGH klärt Voraussetzungen für wirksame Beschränkung aktiver Verkäufe nach der Vertikal-GVO

I. Einleitung

Der EuGH trifft in seinem Urteil vom 8. Mai 2025 (C‑581/23) (abrufbar hier) wichtige Klarstellungen zur Gruppenfreistellung von exklusiven Gebietszuweisungen in Alleinvertriebsverträgen: Für eine solche Freistellung vom Kartellverbot genügt es nicht, dass andere Händler nicht in das geschützte Vertriebsgebiet verkaufen. Vielmehr ist eine – wenn auch nur konkludente – Vereinbarung mit den ausgeschlossenen Händlern dahingehend erforderlich, dass diese nicht aktiv in das geschützte Gebiet verkaufen. Diese Vereinbarung muss mit allen Händlern getroffen werden, denen das Gebiet nicht exklusiv zugewiesen ist. Nur für den Zeitraum, in dem alle diese Händler dem Ausschluss zustimmen, besteht die Gruppenfreistellung.

Es genügt also nicht, dass die Parteien von Alleinvertriebsvereinbarungen nur regeln, dass dem oder den Alleinvertriebshändler(n) ein bestimmtes Gebiet exklusiv zugewiesen wird. Vielmehr ist auch die Vereinbarung mit allen vom aktiven Verkauf im Vertriebsgebiet auszuschließenden Abnehmern zu treffen, dass diese nicht aktiv dorthin verkaufen dürfen. Falls dies nicht schriftlich fixiert wird, laufen die Beteiligten Gefahr, den Nachweis einer solchen Vereinbarung im Zweifel nicht führen zu können. Gelingt der Nachweis nicht, so bedeutet das, dass Unternehmen in ihren Vertriebsverträgen zum einen kein wirksames Verbot aktiver Verkäufe in ein exklusives Gebiet hinein vereinbart haben. Zum anderen liegt eine Wettbewerbsbeschränkung vor, die nicht gruppenfreigestellt ist und damit grundsätzlich gegen das Kartellverbot verstößt.

II. Sachverhalt und Vorabentscheidungfragen

Das niederländische Unternehmen Cono stellt Beemster-Käse her. Zum Vertrieb dieses Käses in Belgien vereinbarten Cono und Beevers Kaas BV („Beevers“) einen Alleinvertriebsvertrag. Verschiedene Gesellschaften der Ahold-Gruppe, dem weltweit größten Betreiber von Supermarktketten („AH-Gesellschaften“), verkauften in ihren belgischen Supermärkten Beemster-Käse, den sie nicht von Beevers bezogen hatten. Die AH-Gesellschaften waren Abnehmer von Beemster-Käse, der von Cono für Märkte außerhalb Belgiens hergestellt wird. Sie hatten dem Verbot des aktiven Verkaufs von Beemster Käse in Belgien zumindest stillschweigend zugestimmt. Beevers verklagte die AH-Gesellschaften und warf ihnen vor, sich durch ihre aktiven Verkäufe in Belgien als Dritte an einer Verletzung ihres Alleinvertriebsvertrags mit Cono beteiligt zu haben (was nach belgischem Recht einen Unterlassungsanspruch begründet).

Laut Art. 4 b) i) Vertikal-GVO sind Gebietszuweisungen grundsätzlich Kernbeschränkungen und nicht gruppenfreigestellt. Ausnahmsweise sind sie aber doch freigestellt. Voraussetzung dieser Ausnahme ist, dass in einem Alleinvertriebssystem aktive Verkäufe allein dem Lieferanten vorbehalten sind oder einem anderen Händler – nach der neuen Vertikal-GVO maximal fünf Händlern – exklusiv zugewiesen sind. Die Exklusivität wird mit der Effizienzerwägung vom Kartellverbot freigestellt, dass Alleinvertriebshändler (auch wenn es sich nach der neuen Vertikal-GVO nicht um einen einzigen Alleinvertriebshändler handeln muss, sondern es auch zwei, drei, vier oder fünf geben darf) durch den Schutz vor aktiven Verkäufen von außerhalb des Vertriebsgebiets einen Anreiz erhält, in den Vertrieb eines Produktes zu investieren. Er wird also vor Free-Riding geschützt.

Das belgische Gericht vertrat die Ansicht, für die Voraussetzung der „exklusiven Zuweisung“ an Beevers genüge der Vertrag von Cono mit Beevers nicht. Vielmehr müsse Beevers auch nachweisen, dass sich alle anderen von Cono belieferten Wiederverkäufer mit dem Verbot, aktiv nach Belgien zu verkaufen, einverstanden erklärt haben. Die belgische Wettbewerbsbehörde, die als amicus curiae an dem Rechtsstreit beteiligt war, vertrat die Ansicht, das Gericht könne die stillschweigende Zustimmung der gebietsfremden Händler aus dem bloßen Umstand ableiten, dass gegenwärtig keiner von ihnen bei Cono bezogene Produkte in Belgien verkaufe. Beevers schloss sich dieser Auffassung an. Demgegenüber trugen die AH-Gesellschaften vor, dies verkenne, dass die Beweislast für die Erfüllung der Voraussetzungen der Freistellung vom Kartellverbot bei Beevers liege. Eine stillschweigende Zustimmung sämtlicher der vom aktiven Verkauf in das Vertriebsgebiet auszuschließenden Händler könne nur dann angenommen werden, wenn Beemster nachweise, dass Cono seine Strategie, alle Händler außer Beemster vom aktiven Verkauf in Belgien auszuschließen, allen ausgeschlossenen Vertragshändlern bei Gewährung der Ausschließlichkeit mitgeteilt und von ihnen verlangt hat, sich an das Verbot des aktiven Verkaufs in Belgien zu halten. Für alle später in das Vertragshändlernetz hinzutretenden Händler hätte Cono ebenfalls so vorgehen müssen. Das belgische Gericht legte nach Art. 267 AEUV dem EuGH u.a. die Frage vor, ob es für das Vorliegen der Gruppenfreistellung ausreiche, wenn lediglich festgestellt werde, dass andere Händler nicht aktiv in Belgien verkaufen. In diesem Fall ging es um die mittlerweile außer Kraft getretene VO 330/2010. Dieselbe Frage stellt sich aber auch zur neuen Vertikal-GVO 2022/720, dort ebenfalls Art.4 b) i).

III. Urteil

Reicht also für die Gruppenfreistellung die bloße Feststellung aus, dass gebietsfremde Abnehmer nicht aktiv in das Alleinvertriebsgebiet verkaufen? Diese Frage verneinte der EuGH. Voraussetzung der Freistellung sei, dass der Lieferant mit der Zuweisung eines Vertriebsgebiets an einen Händler diesen gleichzeitig vor aktiven Verkäufen aller anderen Händler in das Vertragsgebiet schützen müsse. Dazu müsse er eine Vereinbarung nach den Maßstäben von Art. 101 Abs. 1 AEUV mit den ausgeschlossenen Händlern schließen. Eine solche Vereinbarung liege nach ständiger Rechtsprechung des EuGH dann vor, wenn die Unternehmen ihren gemeinsamen Willen zum Ausdruck gebracht haben, sich auf dem Markt in einer bestimmten Weise zu verhalten. Eine nur einseitige Politik einer der Parteien reiche nicht aus (vgl. Urteil vom 29. Juni 2023, Super Bock Bebidas, C‑211/22, EU:C:2023:529, Rn. 47ff. m.w.N.). Der Umstand, dass andere Händler (außer die AH-Gesellschaften) nicht aktiv in Belgien verkauften, ließ der EuGH für sich allein genommen daher nicht ausreichen. Möglicherweise liege auch eine von der exklusiven Gebietszuweisung an Beevers unabhängige autonome Entscheidung der Händler vor, nicht aktiv nach Belgien zu verkaufen.

Der EuGH verlangt aber auch keine schriftlichen Verträge mit den ausgeschlossenen Händlern. Explizites oder implizites Verhalten genüge, wenn es den Schluss zulasse, die ausgeschlossenen Händler hätten der Aufforderung des Lieferanten zugestimmt, vom aktiven Verkauf abzusehen. Der Nachweis könne durch unmittelbare Beweise oder Indizien geführt werden.

Das belgische Gericht hatte auch gefragt, für welchen Zeitraum die Gruppenfreistellung gelte. Der EuGH entschied, sie gelte (nur) für den Zeitraum, für den nachgewiesen sei, dass eine Zustimmung aller ausgeschlossenen Vertragshändler nach Aufforderung des Anbieters zum Verbot des aktiven Verkaufs in das Alleinvertriebsgebiet vorliege.

IV. Folgerungen

Um die Gruppenfreistellung einer Gebietsexklusivität zu erreichen, muss der Anbieter sicherstellen, dass er die vom aktiven Verkauf auszuschließenden Händler zur Einhaltung des Verbots aktiver Verkäufe verpflichtet. Diese Verpflichtung muss er mit allen Händlern treffen, denen das Gebiet nicht aktiv zugewiesen ist. Der EuGH argumentiert konsequent, wenn er erlaubt, den Nachweis einer solche Vereinbarung zwischen dem Anbieter und den ausgeschlossenen Abnehmern – wie auch sonst im Kartellrecht – nicht nur durch einen schriftlichen Vertrag zu führen, sondern auch durch Indizien über eine konkludente (de facto) Vereinbarung. 

Allerdings ist von konkludenten Vereinbarungen abzuraten. Bei nicht hinreichend nachweisbaren – insbesondere also nicht verschriftlichten Vereinbarungen – macht sich der Anbieter ggf. schadensersatzpflichtig gegenüber dem Alleinvertriebshändler, wenn andere Händler aktiv in dessen Vertragsgebiet verkaufen mit der Begründung, sie könnten sich von der konkludenten Vereinbarung lösen bzw. eine solche sei nie zivilrechtlich wirksam Vertragsbestandteil geworden (was angesichts der weiten Verbreitung von Schriftformklauseln ein naheliegendes Risiko ist). 

Auch trifft den Anbieter das Risiko eines Kartellrechtsverstoßes. Denn eine unzulässig ausgeformte Gebietsbeschränkung ist kartellrechtswidrig und als „Kernbeschränkung“ im Sinne der Vertikal-GVO nicht gruppenfreigestellt. Vertikale Kartellrechtsverstöße wegen Kunden- oder Gebietsbeschränkungen werden grundsätzlich ebenso scharf verfolgt wie horizontale Kartellabsprachen. So hat die Europäische Kommission im Mai vergangenen Jahres eine Geldbuße in Höhe von EUR 337,5 Mio. gegen Mondelēz u.a. wegen unzulässiger Gebiets- und Kundenbeschränkungen verhängt (vgl. Pressemitteilung der Europäischen Kommission vom 23. Mai 2024, abrufbar hier).

Unternehmen, die ein Alleinvertriebssystem aufsetzen oder sich daran als Händler beteiligten, sollten demnach nicht nur beim erstmaligen Aufsetzen eines Alleinvertriebssystems darauf achten, dass die Parteien nicht nur die Gebietszuweisung regeln, sondern auch sichergestellt ist, dass alle Händler, denen das Gebiet nicht exklusiv zugewiesen ist, verpflichtet sind, nicht aktiv in das Vertriebsgebiet zu verkaufen. Ist das bisher nicht der Fall, sollten sie die genannten Risiken für die Zukunft durch die Aufnahme zusätzliche Vertragsklauseln oder andere Formen von Vereinbarungen mit den auszuschließenden Händlern minimieren.

Das Urteil wirft ein Schlaglicht auf ein praktisches Problem, das je nach dem anwendbaren nationalen Prozessrecht leicht oder kaum lösbar sein könnte: Wie soll der Abnehmer Beevers nachweisen, Cono habe mit allen auszuschließenden Händlern vereinbart oder diese dazu aufgerufen, nicht aktiv nach Belgien zu verkaufen und die Händler hätten dem zugestimmt, wenn er dabei nicht von Cono unterstützt wird oder gar Cono selbst am Verstoß gegen den Gebietsschutz beteiligt war? Ein Beweis wäre nach Auffassung des EuGH dann erbracht, wenn Cono zur praktischen Durchsetzung des Gebietsschutzes beispielsweise ein System von Überwachung und Bestrafung eingeführt hätte, um diejenigen Abnehmer zu bestrafen, die das Verbot des aktiven Verkaufs nicht beachten.

Das Urteil erinnert überdies daran, dass die in der Praxis häufig fehlerhaft verwendete Faustformel, ein Verbot aktiver Verkäufe könne ohne weitere Voraussetzungen risikofrei vereinbart werden, nicht nur falsch, sondern auch gefährlich ist.

Autor/in
Dr. Helmut Janssen, LL.M. (King's College London)

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Samira Altdorf, LL.M. (Brussels School of Competition)

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