08.01.2024

Newsletter Commercial 1. Ausgabe 2024

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Vorwort

Liebe Leserinnen und Leser,

wir freuen uns, Sie mit unserem ersten Newsletter im neuen Jahr begrüßen zu dürfen. Im Bereich des Transportrechts, Insolvenzrechts und Handelsrechts gab es zahlreiche spannende Entwicklungen, auf die unsere Autoren in diesem Newsletter eingehen werden. Dabei beleuchten sie aktuelle Gerichtsentscheidungen und gesetzliche Neuerungen, die für Unternehmen von Bedeutung sein können. Unser Anliegen ist es, dass Sie Ihr Unternehmen effektiv vor rechtlichen Risiken schützen können. Für Ihre Nachfragen zu diesen und anderen juristischen Themen oder eine tiefergehende rechtliche Beratung stehen wir Ihnen
jederzeit gern zur Verfügung.

Wir möchten diesen Newsletter auch nutzen, um Ihnen im Namen unseres Teams ein frohes neues Jahr zu wünschen. Wir hoffen, dass wir Ihnen auch im Jahr 2024 mit unseren Beiträgen und Analysen eine wertvolle Hilfestellung im Umgang mit rechtlichen Fragestellungen im Wirtschaftsleben bieten können.

Dr. Steffen Gaber, LL.M. (Sydney)                                   Dr. Paul Derabin
Head of Commercial                                                          Legal Content Coordinator

Commercial.Restructuring: Insolvenzverwalter der Wirecard AG fordert Dividenden zurück

Nach massiven Verlusten aus dem Aktiengeschäft sollen Fondsgesellschaften jetzt auch die ausgeschütteten Dividenden zurückzahlen.

Hintergrund

Die Jahresabschlüsse der Wirecard AG für die Jahre 2017 und 2018 wurden aufgrund von Bilanzmanipulationen durch das OLG München I rechtskräftig für nichtig erklärt. Dies eröffnet diverse Möglichkeiten der Inanspruchnahme von Personen, die mit ihrer Nachlässigkeit das betrügerische Geschäftsmodell der Wirecard AG ermöglicht und gefördert haben. Dennoch sollen nach Auffassung des Insolvenzverwalters, Dr. Michael Jaffé, die Anleger für den Großteil des Schadens aufkommen. Der Verwalter hat nun mit der Rückforderung der Dividendenzahlungen aus den Jahren 2017 und 2018 begonnen. Hierbei geraten vor allem institutionelle Anleger – auch aus dem Ausland – in den Fokus, deren Fonds zu den jeweiligen Dividendenstichtagen größere Stückzahlen der Aktien hielten.

Unklare Rechtslage und Wertungswidersprüche

Die Rückforderung erfolgt auf Grundlage der insolvenzrechtlichen Schenkungsanfechtung. Insoweit bestehen kaum Zweifel daran, dass die Voraussetzungen des Anfechtungstatbestands grundsätzlich erfüllt sind. Erheblichen Bedenken begegnet allerdings die Frage, ob Kapitalverwaltungsgesellschaften überhaupt Schuldner des Rückforderungsanspruchs sein können. Überdies stehen die Chancen – insbesondere für institutionelle Anleger – gut, dass zwischenzeitlich Entreicherung eingetreten ist. Dies auch vor dem Hintergrund, dass der Verwalter nicht nur die Dividendenzahlung, sondern auch bereits abgeführte Steuern von den Anlegern zurückverlangt.

Insgesamt hängt die Frage, ob ein Rückforderungsanspruch durchgesetzt werden kann von zahlreichen Wertungsfragen ab, die bisher keiner gerichtlichen Prüfung unterzogen wurden. Auch das allgemeine Vertrauen der Anleger in die Integrität und Stabilität des Kapitalmarkts, der zukünftig auch eine größere Rolle im Rahmen der Staatsfinanzierung spielen soll, steht hier auf dem Spiel. Schließlich offenbaren sich auch Wertungswidersprüche einer aktuellen und umstrittenen BGH-Entscheidung, wonach die Gutgläubigkeit des Dividendenempfängers der Insolvenzanfechtung nicht entgegensteht, obwohl § 62 Abs. 1 S. 2 AktG dies im gesellschaftsrechtlichen Kontext ausdrücklich normiert.

Zweifel am richtigen Anfechtungsgegner

Die Inanspruchnahme der Kapitalverwaltungsgesellschaften bzw. der jeweiligen Fonds, kann aus insolvenzanfechtungsrechtlichen und kapitalmarktrechtlichen sowie gesellschaftsrechtlichen Gründen in Zweifel gezogen werden. Für die Wahl des richtigen Anfechtungsgegners dürfte relevant sein, wer überhaupt als Adressat der Dividendenzahlung anzusehen ist. Unter Zugrundelegung sowohl kapitalmarktrechtlicher als auch gesellschaftsrechtlicher Grundsätze ist die Kapitalverwaltungsgesellschaft nicht als Aktionär anzusehen und damit auch nicht Empfänger der Dividendenzahlung. Ferner ist zu berücksichtigen, dass die Fondsgesellschaften nach allen in Betracht kommenden Gestaltungsformen des Kapitalanlagegesetzbuchs (KAGB) keine wirtschaftliche Berechtigung an dem verwalteten Sondervermögen haben und einer strikten Vermögenstrennung unterliegen. Insofern kann schon die Erlangung eines Vermögenswerts im anfechtungsrechtlichen (nicht bereicherungsrechtlichen) Sinne mit guten Gründen hinterfragt werden. Schließlich erscheint die Rückzahlung der Dividenden aus den jeweiligen Sondervermögen der Fonds insbesondere auch im Hinblick auf den kapitalmarktrechtlichen Anlegerschutzes bedenklich. Hier könnte – jedenfalls bei Publikumsfonds – eine Haftung völlig unbeteiligter Anleger entstehen, die auch verfassungsrechtliche Bedenken (Art. 14 Abs. 1 GG) aufkommen lässt.

Entreicherungseinwand

Weiterhin eröffnet § 143 Abs. 2 InsO denjenigen, die sich einer Rückforderung des Insolvenzverwalters ausgesetzt sehen, den Einwand der Entreicherung. Dieser könnte mit Aussicht auf Erfolg erhoben werden, wenn die Dividendenzahlung nicht mehr im Fondsvermögen vorhanden ist oder der ausgezahlte Betrag durch andere Faktoren geschmälert wurde. Insoweit sind insbesondere zwischenzeitlich erfolgte Ausschüttungen an die Fondsanleger sowie Steuerzahlungen relevant. Auch hier betritt der Insolvenzverwalter juristisches Neuland, da vergleichbare Fälle noch nicht Gegenstand der Rechtsprechung waren.

Ausblick

Für institutionelle Anleger dürfte es sich vor diesem Hintergrund lohnen, den Forderungen des Insolvenzverwalters entgegenzutreten. Dies nicht zuletzt auch deshalb, weil der Verwalter nur über einen eingeschränkten Informationszugriff verfügt. Dies gilt sowohl für den Bestand der Wirecard Aktionäre als auch für die Höhe der ausgezahlten Dividenden; den Anfechtungen liegen dementsprechend teilweise fehlerhafte Informationen hinsichtlich Stückzahlen und Inhaberschaft der Aktien zugrunde. Ob der Verwalter insoweit einen Auskunftsanspruch gegen die Kapitalverwaltungsgesellschaften geltend machen kann, erscheint fraglich. Schließlich rennt dem Verwalter die Zeit davon: die (vermeintlichen) Ansprüche verjähren möglicherweise bereits mit Ablauf des Jahres 2023.

Autoren

Henning Brockhaus

Dr. Boris Ober

Commercial.Logistics: Auslaufen der Gruppenfreistellungsverordnung für Konsortien in der Linienschifffahrt – Hintergrund und Ausblick

Die EU-Kommission hat angekündigt, die Gruppenfreistellungsverordnung für Konsortien, nach der gewisse Konsortialvereinbarungen im Linienverkehr vom Kartellverbot ausgenommen werden, nicht zu verlängern. Die Verordnung wird daher zum 25. April 2024 endgültig auslaufen. Zwar können Konsortien auch weiterhin bestehen und neu entstehen. Die rechtlichen Rahmenbedingungen für deren Zulässigkeit werden jedoch zukünftig den allgemeinen EU-Kartellvorschriften ohne die bisherige – erleichterte – Sonderregelung unterstellt und damit erschwert sein.

Hintergrund

Grundsätzlich verbietet das europäische Wettbewerbsrecht Vereinbarungen zwischen Unternehmen mit zwischenstaatlichem Bezug, die den Wettbewerb spürbar beeinträchtigen (Art. 101 Abs. 1 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union – „AEUV“). Absatz 3 des Artikels sieht jedoch vor, dass bestimmte Vereinbarungen oder Gruppen von diesem Verbot ausgenommen werden können. Hiervon machte die EU-Kommission für Konsortialvereinbarungen in der Linienschifffahrt Gebrauch, indem sie im Jahr 2009 die Verordnung (EG) Nr. 906/2009, die sogenannte Gruppenfreistellungsverordnung für Konsortien zwischen Schifffahrtsunternehmern (nachfolgend „GVO“) erließ. Diese sieht vor, dass sich Seeschifffahrtsunternehmen unter bestimmten Voraussetzungen zu Konsortien (häufig in Form von „Allianzen“) zusammenschließen dürfen, um gemeinsam internationale Seeverkehrsliniendienste von oder nach einem oder mehreren Häfen der europäischen Gemeinschaft anzubieten und zu erbringen. Diese sektorspezifische Gruppenfreistellung befreit also zahlreiche Konsortien pauschal von dem Verbot wettbewerbsbeschränkender Klauseln.

Ein Konsortium ist ein Zusammenschluss von Schifffahrtsunternehmen, die vereinbaren, ihre jeweiligen Schiffskapazitäten zu bündeln und den Linienverkehr gemeinsam zu organisieren. Linienschifffahrtsdienste, auf die die GVO beschränkt ist, sind regelmäßige, fahrplangebundene Seeverkehrsdienste zur Beförderung von Gütern. Konsortien nutzen ihre Schiffe also gemeinsam und stimmen die Fahrpläne untereinander ab. Die weltweit größten Reedereien sind im Linienverkehr allesamt in Konsortien organisiert. Voraussetzung der Freistellung ist, dass der gemeinsame Marktanteil der Mitglieder des Konsortiums auf dem betreffenden Markt nicht mehr als 30% der insgesamt beförderten Gütermenge beträgt.

Die Schifffahrtsunternehmen sollten im Bereich des Linienverkehrs in den Genuss der kartellrechtlichen Sonderbehandlung kommen, weil dort die Investitionen besonders hoch sind. Mit der Verordnung sollten Effizienzgewinne für Reedereien durch eine erhöhte Auslastung der Schiffe sowie eine Steigerung der zusätzlichen Abfahrten und Direktverbindungen, mithin eine verbesserte Leistungsfähigkeit und -qualität, die den Kunden zu Gute kommen sollten, ermöglicht werden. Sie sollte die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Linienschifffahrtsbranche und den Handel fördern.

Nach dem Erlass der GVO im Jahr 2009 hatte die EU-Kommission diese nach entsprechenden Evaluierungen der Marktbedingungen und öffentlichen Konsultationsverfahren in den Jahren 2014 und 2020 jeweils verlängert. Die letzte Verlängerung begründete die EU-Kommission damit, dass in den vorangegangenen Jahren sowohl die Kosten für die Schifffahrtsunternehmen als auch die Preise für ihre Kunden pro 20-Fuß-Container (TEU) bei gleichbleibend stabiler Qualität der Dienstleistungen um rund 30% gesunken seien. Den Zweck der GVO sah sie damit weiterhin als erfüllt und die Sonderregelung daher als gerechtfertigt an.

Ansichten der Interessensträger

Die Berechtigung der GVO wurde jedoch schon vor der letzten Verlängerung im Jahr 2020 äußerst kontrovers gesehen:

Die Verbände der Reeder halten die kartellrechtliche Sonderbehandlung weiterhin für gerechtfertigt und notwendig. Die GVO gebe den Reedereien Rechtssicherheit, ihre Dienste weiterhin anbieten zu können. Sie führe zu dem bezweckten verbesserten Beförderungsangebot, zu niedrigeren Preisen und habe zudem erhebliche positive Umwelteffekte. Sie habe außerdem eine wichtige Bedeutung für Handelsrouten, auf denen nur wegen der gebündelten Frachtaufkommen noch mehrere Wettbewerber zu halten sein könnten.

Die Mehrheit der Verbände der Verlader, Speditions- und Hafenunternehmen hingegen übt massive Kritik an der GVO und an deren Auswirkungen auf den Markt. Die Verbände erklärten, immer weniger von den versprochenen Vorteilen zu profitieren. Im Gegenteil führe die Freistellung vor allem zu einer erheblichen Verhandlungs- und Marktmacht der Reedereien sowie zu steigenden Preisen; die Leistungsqualität habe eher abgenommen; durch die stetige Vergrößerung der Schiffe würden nicht mehr alle Häfen (direkt) angefahren werden; und es mangele an Transparenz für die Kunden. Ferner würden die Konsortien ihr Verhalten auch über den bestimmten Kernbereich, nämlich die operativen Absprachen für die Auslastung von Schiffen, hinaus koordinieren, so zum Beispiel in Bezug auf den Betrieb von Hafenterminals und auf Hinterlandverkehre.

Keine weitere Verlängerung nach 25. April 2024

In einer Stellungnahme vom 10. Oktober 2023 hat die EU-Kommission nun die Ergebnisse der im Jahr 2022 durchgeführten öffentlichen Konsultation und der Bewertung zusammengefasst. Sie schließt sich im Ergebnis den Kritikern der Regelung an, wonach eine weitere Verlängerung der GVO nicht mehr gerechtfertigt ist. Dies stützt sie insbesondere auf folgende Erwägungen:

  • Die Marktbedingungen hätten sich in dem Bewertungszeitraum von 2020 bis 2023 im Vergleich zu dem Zeitraum des Erlasses der GVO im Jahr 2009 drastisch verändert. Insbesondere habe es eine vorübergehende und außergewöhnliche Phase gegeben, in der die Nachfrage die tatsächliche Kapazität überstieg und die Schifffahrtsunternehmen Rekordgewinne erzielten. Die vormals herrschenden Zustände des Überangebots und der geringen Rentabilität in dem Linienverkehrssektor seien somit nicht mehr gegeben.
  • Die gesammelten Daten aus dem Bewertungszeitraum zeigten eine nur noch geringe Wirksamkeit und Effizienz der GVO. Weder seien relevante Einsparungen ersichtlich noch werde das Ziel erreicht, den Wettbewerb zu fördern, indem kleinere Schifffahrtsunternehmen in die Lage versetzt werden, untereinander zu kooperieren und im Wettbewerb mit größeren Reedereien alternative Dienstleistungen anzubieten. An den Konsortien sei nämlich immer auch eines der weltgrößten Schifffahrtsunternehmen beteiligt.
  • Zudem sei aus den Eingaben im Rahmen des Konsultationsprozesses ersichtlich gewesen, dass die GVO in der Regel keine entscheidende Rolle dabei spiele, ob Unternehmen sich dazu entschieden, eine Kooperation einzugehen. Hierbei stünden vielmehr kommerzielle Erwägungen im Vordergrund.
  • Ferner bedürfe es der GVO nicht, um positive Umwelteffekte zu erzielen, weil der Sektor ohnehin verbindlichen internationalen Vorgaben und EU-Maßnahmen zur Reduzierung der Umweltverschmutzung unterworfen sei.

Ausblick

Auch nach Auslaufen der GVO zum 25. April 2024 werden Konsortien weiterhin be- und entstehen dürfen. Allerdings gelten für deren Zulässigkeit dann nicht mehr die erleichterten Voraussetzungen der GVO, sondern die allgemeinen EU-Kartellvorschriften.

Unternehmen müssen daher im Wege der sogenannten Selbsteinschätzung mit Hilfe ihrer Anwälte zunächst prüfen, ob die konkrete praktizierte oder zukünftig ins Auge gefasste Kooperation eine (spürbare) Beschränkung des Wettbewerbs bezweckt oder bewirkt. Wenn dem so ist, muss weiter geprüft werden, ob die Voraussetzungen einer Einzelfreistellung vorliegen. Diese erfordert vier Voraussetzungen:

  • Die konkrete Kooperation muss nachweisbare Effizienzen („Verbrauchervorteile“) generieren, wie z. B. Kosteneinsparungen, die auch zu niedrigeren Preisen führen, ein breiteres Angebot an Frachtrouten oder eine höhere Frequenz an Abfahrten oder – neuerdings in gewissem Umfang – Nachhaltigkeitsvorteile.
  • Diese Vorteile/Effizienzen müssen jedenfalls teilweise auch an die Kunden weitergegeben werden.
  • Die Beschränkungen dürfen dabei daher nicht weiter gehen als nötig. Zu fragen wird dabei sein, ob es jeweils andere, weniger beschränkende Vereinbarungen/Arten der Kooperation gibt, die dieselben Effizienzvorteile erzielen.
  • Schließlich dürfen Vereinbarungen über Konsortien den Wettbewerb nicht ganz oder zu einem erheblichen Teil ausschalten. Letzteres wird bei der Beteiligung von Großunternehmen an den Konsortien ein für die Beurteilung einer Einzelfreistellung wichtiger Punkt sein. Es wird sich die Frage stellen, ob den Konsortien noch ausreichender Wettbewerb gegenübersteht.

In einer Gesamtabwägung müssen die wettbewerblich positiven die negativen Wirkungen überwiegen. Die Erfüllung der vier Kriterien wird – anders als unter der GVO – bei den Kooperationen nun nicht mehr vermutet, sondern muss im Einzelfall analysiert werden und nachweisbar sein. Eine Hilfestellung für Unternehmen wie auch Wettbewerbsbehörden und nationale Gerichte zur Beurteilung sowohl der Frage, ob im konkreten Fall eine spürbare Wettbewerbsbeschränkung vorliegt und wenn ja, ob dann die Kriterien der Einzelfreistellung erfüllt sind, geben die neuen Leitlinien der EU-Kommission für die Vereinbarungen über horizontale Zusammenarbeit vom 1. Juni 2023 (siehe PDF).

Die Bildung von Konsortien wird daher weiter möglich sein, erfordert aber eben eine solche Einzelfallprüfung. Unternehmen, die derzeit Konsortien dieser Art bilden, sollten rechtzeitig vor Auslaufen der GVO prüfen, ob sie diese unverändert weiterführen können, oder ob Änderungen oder sogar die Beendigung der Kooperation geboten sind.

Autoren

Jette Gustafsson, LL.M. 

Anne Caroline Wegner, LL.M.
 

Commercial.Restructuring: Neukundenbonus und insolvenzrechtliche Aufrechnung

Ausgangssituation

Mit Urteil vom 27. Juli 2023 (IX ZR 267/20) hat sich der BGH zur Zulässigkeit einer Musterfeststellungsklage gegen einen Insolvenzverwalter geäußert. Außerdem setzte sich der BGH mit der Frage auseinander, wie Regelungen in Energielieferverträgen zu einem Neukundenbonus aus AGB-rechtlicher Sicht auszulegen sind und ob die Verrechnung mit einem Neukundenbonus als insolvenzrechtlich unzulässige Aufrechnung zu werten ist. In diesem Beitrag liegt der Fokus auf der zuletzt genannten Frage.

Sachverhalt

Geklagt hatte ein Verbraucherschutzverein im Wege der Musterfeststellungsklage gegen den Insolvenzverwalter eines Energieversorgers. Der Energieversorger warb Kunden von Energielieferverträgen über Gas und Strom u. a. mit einem vom Jahresumsatz abhängigen Neukundenbonus. Im Jahr 2019 stellte er die Belieferung seiner Kunden insolvenzbedingt ein. Der Insolvenzverwalter rechnete die Verträge von mehr als 100.000 Kunden ohne Berücksichtigung des Neukundenbonus ab, wenn zuvor keine Mindestvertragslaufzeit von einem Jahr abgelaufen war. Der Insolvenzverwalter vertrat die Auffassung, dass die Berücksichtigung eines Bonus eine insolvenzrechtlich unzulässige Aufrechnung sei und forderte statt dessen die betroffenen Verbraucher auf, ihre diesbezüglichen Forderungen zur Insolvenztabelle anzumelden. Der Verbraucherschutzverein trat dem mit einer Musterfeststellungsklage entgegen und beantragte u. a. die Feststellung, dass die Entgeltforderungen des Energieversorgers in den Schlussrechnungen jeweils um den Neukundenbonus zu kürzen sind und dass dies keine insolvenzrechtlich unzulässige Aufrechnung darstellt.

Zulässigkeit der Aufrechnung im Insolvenzverfahren im Allgemeinen

Im Grundsatz setzt die Aufrechnung zwei selbstständige Forderungen voraus, die in einem Gegenseitigkeitsverhältnis stehen und gleichartig sind, § 387 BGB. Im Kontext eines Insolvenzverfahrens kann es jedoch zu einer Kollision des Grundsatzes der Gläubigergleichbehandlung auf der einen Seite und dem Interesse des einzelnen Forderungsgläubigers auf der anderen Seite kommen. Dem versuchen die §§ 94 ff. InsO Rechnung zu tragen. Gemäß § 94 InsO wird das Recht zur Aufrechnung durch die Eröffnung des Insolvenzverfahrens nicht berührt, wenn ein Insolvenzgläubiger zur Zeit der Eröffnung kraft Gesetzes oder auf Grund einer Vereinbarung zur Aufrechnung berechtigt ist. Der Zeitpunkt der Eröffnung des Insolvenzverfahrens und die Aufrechnungslage sind demnach entscheidend, wenn es um die Frage geht, ob insolvenzrechtliche Aufrechnungsverbote greifen. Entsteht eine Aufrechnungslage erst nach der Insolvenzeröffnung, ist eine Aufrechnung unzulässig. Bei bedingten Forderungen ist entscheidend, ob die Forderung des insolventen Schuldners oder die ihr gegenüberstehende Forderung des betreffenden Gläubigers zuerst unbedingt und fällig wird, § 95 Abs. 1 S. 3 InsO. Gemäß § 96 Abs. 1 Nr. 3 InsO ist die Aufrechnung außerdem unzulässig, wenn ein Insolvenzgläubiger die Möglichkeit der Aufrechnung durch eine anfechtbare Rechtshandlung erlangt hat.

Das Urteil

Der BGH stellte fest, dass die Berücksichtigung eines Neukundenbonus in der Jahresverbrauchsabrechnung eines Energieversorgungsvertrags keine insolvenzrechtlich unzulässige Aufrechnung oder Verrechnung darstellt, wenn der Neukundenbonus als vom Jahresumsatz abhängiger Nachlass (Rabatt) ausgestaltet ist. Der Neukundenbonus sei (nur) als unselbstständiger Rechnungsposten, neben dem Grundpreis und dem Arbeitspreis, als dritter Berechnungsfaktor bei dem auf die verbrauchsbezogene Entgeltberechnung anzuwendenden Tarif als von der Gesamtrechnung abzuziehender Nachlass ausgestaltet. Der von dem Energieversorger zugesagte Neukundenbonus bewirke, dass die Vergütung für die im ersten Jahr gelieferte Energie nicht nach dem grundsätzlich vereinbarten Tarif berechnet, sondern um den vereinbarten Prozentsatz herabgesetzt wird. Die Vorschrift des § 96 Abs. 1 Nr. 3 InsO finde zwar auch auf Verrechnungen Anwendung. Für die Saldierung beziehungsweise Verrechnung unselbstständiger Rechnungsposten gelte sie jedoch nicht. Insbesondere die Anrechnung von Abzugsposten mit unmittelbar anspruchsmindernder Wirkung stelle bei der Feststellung der Höhe einer Forderung keine Verrechnung dar. Entscheidend sei, dass bereits die Voraussetzungen einer Aufrechnung, wonach sich zwei selbstständige Forderungen gegenüber stehen müssen, nicht gegeben seien und dass deshalb ein Aufrechnungsverbot nach Maßgabe insolvenzrechtlicher Vorschriften schon im Grundsatz ausscheide.

Fazit

Das Urteil des BGH vom 27. Juli 2023 (IX ZR 267/20) wurde vielfach im Zusammenhang mit den Feststellungen zur Zulässigkeit einer Musterfeststellungsklage erörtert. Es ist aber auch beachtlich im Hinblick auf die Feststellungen zur Zulässigkeit von Aufrechnungen. Aus Gläubigersicht beinhaltet es eine begrüßenswerte Klarstellung dahingehend, dass die Aufrechnungsverbote im Falle der Saldierung unselbstständiger Rechnungsposten nicht gelten. Diese Feststellung mag „nicht neu“ sein. Mit Blick auf die aktuell steigenden Insolvenzzahlen ist sie aber dennoch beachtlich. Sie zeigt die Bedeutung der Vertragsgestaltung und der sich daraus ggf. ergebenden Möglichkeiten zur Sicherung insolvenzfester Anrechnungspotenziale.

Entscheidend war schließlich, dass der von dem Energieversorger versprochene Neukundenbonus als vom Jahresumsatz abhängiger Nachlass (Rabatt) ausgestaltet war. Damit wurde die Möglichkeit eröffnet, den Neukundenbonus als unselbstständigen Abzugsposten mit unmittelbar anspruchsmindernder Wirkung auszulegen und dadurch die Anwendbarkeit der insolvenzrechtlichen Aufrechnungsverbote zu verneinen.

Autoren

Christiane Kühn, LL.M. 

Patrick Diessner, LL.M. oec.

Commercial.Compliance: Kompromiss auf EU-Ebene zur Lieferkettensorgfaltspflichten-Richtlinie

Einführung

Am 14. Dezember 2023 haben sich der Rat der EU und das EU-Parlament auf einen Kompromiss betreffend die Ausgestaltung der künftigen EU-Richtlinie zu unternehmerischen Sorgfaltspflichten in der Lieferkette verständigt. Der konkrete Regelungstext liegt noch nicht vor, allerdings sind die wesentlichen Eckpunkte der Richtlinie kommuniziert – daraus ergeben sich Schlussfolgerungen für deutsche Handelsunternehmen.

Zur bisherigen Entwicklung

Nachdem der Deutsche Bundestag am 11. Juni 2021 das Gesetz über die unternehmerischen Sorgfaltspflichten zur Vermeidung von Menschenrechtsverletzungen in Lieferketten (Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz, nachfolgend „LkSG“) beschloss, das am 1. Januar 2023 im Kraft trat, veröffentlichte die Europäische Kommission am 23. Februar 2022 den Entwurf einer Richtlinie über die Sorgfaltspflichten von Unternehmen im Hinblick auf Nachhaltigkeit (Corporate Sustainability Due Diligence-Directive (CSDDD-E-KOM). Der Rat der EU befasste sich bereits mit diesem Entwurf und beschloss am 1. Dezember 2022 seine Verhandlungsposition („allgemeine Ausrichtung“) zum Entwurf der EU-Kommission. Nach der ersten Lesung am 1. Juni 2023 hat das Europäische Parlament Änderungen vorgeschlagen (CSDDD-E-EP), die den Anwendungsbereich und die Sorgfaltspflichten der Richtlinie verschärfen und erweitern sollten. Nunmehr haben sich das EU-Parlament und der EU-Ministerrat auf einen Kompromiss verständigt.

Zielrichtung des EU-Richtlinienentwurfs

Wie schon das LkSG zielt auch der CSDDD-E auf die Pflicht für Unternehmen, bei sich selbst und innerhalb ihrer Lieferketten menschenrechtliche und umweltbezogene Sorgfaltspflichten zu erfüllen. Unternehmen, die in den Anwendungsbereich des CSDDD-E fallen, sollen Risikoanalysen sowie Präventions- und Abhilfemaßnahmen zur Aufdeckung, Vermeidung und Beendigung negativer Auswirkungen für die Umwelt- und Menschenrechte leisten. Zudem ist von den Unternehmen ein Beschwerdemechanismus einzurichten und kontinuierlich ein Rechenschaftsbericht über die Erfüllung der ihr obliegenden Pflichten zu erstellen und abzugeben.

Anwendungsbereich

Eine Anpassung hat sich bei dem Anwendungsbereich der Richtlinie ergeben. Nunmehr sollen die in der Richtlinie niedergelegten Pflichten greifen bei einem weltweiten Umsatz des Unternehmens von über EUR 150 Mio. sowie einer Größe von mindestens 500 Beschäftigten. Die Anwendbarkeit soll ebenfalls eröffnet sein, wenn das Unternehmen mindestens 250 Beschäftigte und einen Umsatz von mindestens EUR 40 Mio. hat, wenn mindestens EUR 20 Mio. davon in bestimmten Risikosektoren verdient werden.

An dieser Stelle ist der Entwurf gegenüber der vom EU-Parlament erarbeiteten Fassung ein wenig entschärft worden. Angesichts der Tatsache allerdings, dass die in die Anwendbarkeit fallenden Unternehmen die bestehenden Pflichten betreffend ihre Lieferkette im Rahmen des Möglichen auch an ihre Handelspartner vertraglich weitergeben werden, führt dieser Aspekt nicht zu einer Absenkung an Relevanz für die auch kleineren im Handelsgeschäft tätigen Unternehmen.

Von Relevanz ist allerdings die vereinbarte vorübergehende Ausnahme für die im Finanzsektor tätigen Unternehmen – sie sollen vorerst vom Anwendungsbereich der Lieferkettensorgfaltspflichten herausgenommen werden. Genaueres ist hierzu noch nicht bekannt. Der Entwurf des Europäischen Parlaments sah hier noch umfangreiche Regelungen in den Artikeln 3, 6, 7 und 8 CSDDD-E-EP vor.

Im Vergleich erfasst der aktuell in Deutschland einschlägige § 1 Abs. 1 LkSG nur diejenigen Unternehmen, die ihre Hauptverwaltung, ihre Hauptniederlassung, ihre Zweigniederlassung oder ihren satzungsmäßigen Sitz im Inland haben und in der Regel mehr als 3.000 (seit dem 1. Januar 2024 1.000) Arbeitnehmer im Inland beschäftigen, wobei die Rechtsform unberücksichtigt bleibt.

Der CSDDD-E-EP setzt zwar die Mindestbeschäftigtenanzahl herab, fordert aber gleichzeitig das Vorliegen eines Mindestumsatzes, sodass diese Senkung relativiert wird. Gleichwohl schätzt die Kommission, dass etwa 13.000 Unternehmen aus der EU und etwa 4.000 Unternehmen aus Drittändern von der Richtlinie betroffen sein werden, wobei diese Zahlen nach dem Vorschlag des Parlaments noch höher ausfallen könnten. Insgesamt würde sich der Anwendungsbereich für deutsche Unternehmen vergrößern.

Sorgfaltspflichten

Der Kern dieser Richtlinie sind die in den Artikeln 5 bis 11 CSDDD-E-KOM normierten Sorgfaltspflichten, die Art. 4 CSDDD-E-KOM enumerativ aufzählt. Diese Systematik ähnelt der des LkSG. Dazu zählen die Einbeziehung der Sorgfaltspflichten in die Unternehmenspolitik (Art. 5), die Ermittlung tatsächlicher oder potenzieller negativer Auswirkungen (Art. 6), die Vermeidung und Abschwächung potenzieller negativer Auswirkungen, deren Behebung sowie die Minimierung ihres Ausmaßes (Art. 7 und 8), die Errichtung und Aufrechterhaltung eines Beschwerdeverfahrens (Art. 9), die Überwachung der Wirksamkeit ihrer Strategien und Maßnahmen zur Erfüllung ihrer Sorgfaltspflicht (Art. 10) sowie die öffentliche Kommunikation über die Sorgfaltspflichten (Art. 11). Dabei obliegt den betroffenen Unternehmen nach ErwG 15 CSDDD-E-KOM, wie auch nach dem LkSG, keine Erfolgs- sondern lediglich eine Bemühungspflicht, sodass zu den geeigneten Maßnahmen insbesondere Handlungen zur Identifikation oder Prävention von negativen Auswirkungen gehören.

Auch für die Sorgfaltspflichten sieht das Europäische Parlament Verschärfungen vor. Die Unternehmen sollen ihre Strategien nicht mehr jährlich aktualisieren, sondern kontinuierlich, sofern Veränderungen eingetreten sind (Art. 5 Abs. 2 CSDDD-E-EP). Die Sorgfaltspflichten nach dem LkSG beziehen sich nach § 2 Abs. 5 LkSG lediglich auf die vorgelagerte Lieferkette im eigenen Geschäftsbereich. Dagegen nennt der CSDDD-E-EP die Geschäftsbeziehungen eines Unternehmens als Anknüpfungspunkt für die Sorgfaltspflichten. Diese sind nach Art. 3 lit. e CSDDD-E-EP jede direkte oder indirekte Beziehung eines Unternehmers zu allen Rechtssubjekten in seiner Wertschöpfungskette. ErwG 18 CSDDD-E-EP stellt dabei ausdrücklich klar, dass die gesamte Wertschöpfungskette davon betroffen ist, also bis hin zum Vertrieb und der Entsorgung eines Produkts, wodurch sich die Sorgfaltspflichten auch auf Kunden und mittelbare Geschäftspartner beziehen. Somit wird die Reichweite der Sorgfaltspflichten erheblich erweitert.

Zivilrechtliche Haftung

Schließlich ist zu beachten, dass Art. 22 Abs. 1 CSDDD-E-KOM eine zivilrechtliche Haftung vorsieht. Auch der nun ausgehandelte Kompromiss sieht vor, dass Opfer der Verletzungen von Sorgfaltspflichten in der Lieferkette einen direkten Anspruch auf Kompensation ihrer Schäden erhalten sollen. Es ist daher damit zu rechnen, dass die finale EU-Richtlinie eine konkrete Anspruchsgrundlage für Betroffene vorsieht, die sodann in nationales Recht zu übertragen ist.

Eine solche ist in dem LkSG nicht vorgesehen und wird sogar explizit in § 3 Abs. 3 LkSG ausgeschlossen. Während nach Art. 22 Abs. 1 CSDDD-E-KOM eine Haftung nur dann möglich ist, wenn eine Pflicht aus Art. 7 oder 8 CSDDD-E-KOM verletzt wurde, bestimmt der Parlamentsentwurf nunmehr, dass eine Haftung immer dann in Betracht kommt, sofern irgendeine Pflicht aus der Richtlinie nicht erfüllt wurde.

Zudem soll, wie bereits in Art. 22 Abs. 2a CSDDD-E-EP vorgesehen, die Verjährungsfrist dieser Ansprüche mindestens zehn Jahre betragen, wobei sichergestellt werden muss, dass die Verfahrenskosten nicht unverhältnismäßig hoch sind und die Kläger Unterlassungsklagen auch im Eilverfahren erheben können.

Behördliches Vorgehen gegen Verstöße gegen Sorgfaltspflichten in der Lieferkette

Zur Durchsetzung der Sorgfaltspflichten in der Lieferkette ist nach dem Kompromiss geplant, dass die Mitgliedstaaten Aufsichtsbehörden mit der Überwachung der Einhaltung beauftragen, die im Einzelfall Ermittlungen bei den Unternehmen anstellen dürfen. Als mögliche Sanktionen sind Geldbußen in Höhe von fünf Prozent des weltweiten Umsatzes vorgesehen.

Hinzu kommt voraussichtlich ein „naming and shaming“. Es ist noch nicht ersichtlich, was damit konkret gemeint ist. Es lässt sich allerdings annehmen, dass die Namen der sorgfaltswidrig handelnden Unternehmen öffentlich in einem EU-Portal bekannt gemacht werden sollen.

Konsequenzen für die Rechtslage in Deutschland

Die geplante EU-Richtlinie wird keine unmittelbare Geltung in Deutschland haben – sie muss in einem nationalen Rechtsakt umgesetzt werden. Die Ergebnisse des Kompromisses zum Entwurf der EU-Lieferkettenrichtlinie haben aber zur Konsequenz, dass das erst seit Kurzem in Deutschland geltende Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz (LkSG) an einigen Stellen wird an das künftig geltende EU-Recht angepasst werden müssen.

Der Anwendungsbereich des nunmehr finalen Entwurfs der EU-Lieferkettenrichtlinie ist weiter als der aktuell in § 1 des LkSG vorgesehene – künftig sollen Unternehmen mit 500 Beschäftigten und bei Erfüllen zusätzlicher Voraussetzungen sogar Unternehmen mit 250 Beschäftigten in den Anwendungsbereich der Sorgfaltspflichten im Hinblick auf ihre Lieferketten unterfallen. In Deutschland ist der Anwendungsbereich seit dem 1. Januar 2024 für Unternehmen ab 1.000 Beschäftigten eröffnet.

Das LkSG sieht in § 24 Geldbußen von bis zu zwei Prozent des Jahresumsatzes vor. Insofern ist der nunmehr vorgesehene Rahmen der Geldbußen von bis zu fünf Prozent des weltweiten Jahresumsatzes eine gewaltige Verschärfung und damit ein bedeutendes wirtschaftliches Risiko für betroffene Unternehmen.

Die EU-Richtlinie wird die zivilrechtliche Haftung der Unternehmen vorsehen, welche bislang im deutschen LkSG ausdrücklich ausgeschlossen ist. Hinzu kommt eine für das deutsche Recht ungewöhnlich lange Verjährungsfrist von mindestens zehn Jahren. Damit geht ein enormes rechtliches und wirtschaftliches Risiko für die betroffenen Unternehmen einher.

Fazit

Der konkrete Regelungstext des finalen Entwurfs der EU-Richtlinie zu Sorgfaltspflichten in der Lieferkette liegt noch nicht vor. Die genaue Gestaltung der zentralen Vorgaben und Rechtsfolgen dieser Richtlinie kann daher noch nicht abschließend bewertet werden. Es zeichnet sich aber bereits jetzt ab, dass das deutsche LkSG im Nachgang an einigen Stellen nachgeschärft wird. Hierauf sollten sich die Entscheidungsträger in den Unternehmen bereits jetzt einstellen und ihre Prozesse bereits jetzt darauf einstellen und überprüfen.

Autoren

Jens-Uwe Heuer-James

Dr. Paul Derabin

Commercial.Litigation: BGH – Ausweitung der Anwaltshaftung bei unterbliebener Insolvenzberatung

(Urteil vom 29.06.2023, IX ZR 56/22)

Der BGH hat sich in einer Grundsatzentscheidung ausführlich mit der Einbeziehung (faktischer) Geschäftsführer als Dritte in den Schutzbereich eines Beratungsvertrages beschäftigt. Gegenstand des zu bescheidenden Falles war der Schadensersatzanspruch zweier Geschäftsführer gegen den vormals ihre Gesellschaft beratenden Rechtsanwalt wegen mangelnder Beratung zu einem möglichem Schadenersatzanspruch nach § 64 GmbHG (alt).

Sachverhalt

Ende 2009 übernahm der M. von seinem Vater M.sen. die formale Geschäftsführung der M GmbH & Co. KG (nachfolgend: KG). Gleichzeitig blieb M.sen. faktisch als Geschäftsführer der KG aktiv. Ab 2009 war der beklagte Rechtsanwalt wiederholt mit der „Rechtsberatung der KG“ beauftragt (die näheren Einzelheiten und Inhalte wurden nicht mitgeteilt). Drei Jahre später wurde über das Vermögen der KG das Insolvenzverfahren eröffnet. In dessen Rahmen wurden M. als formaler Geschäftsführer und M.sen. als faktischer Geschäftsführer wegen verbotener Zahlungen nach Insolvenzreife in Anspruch genommen. Im Wege eines Vergleichs wurden hierauf auf EUR 85.000 an den Insolvenzverwalter gezahlt. Von dem zu dieser Zeit tätigen Rechtsanwalt (bzw. dessen Haftpflichtversicherung) verlangen die Kläger nunmehr Ersatz dieses Schadens.

Entscheidung

Die Revision gegen die abschlägige Entscheidung des OLG hatte Erfolg und führte zur Aufhebung des angefochtenen Urteils sowie zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht (OLG Köln). Mit der Entscheidung erweiterte und ergänzte der BGH seine bisherige Rechtsprechung.

Nach dem Urteil vom 26.01.2017 (IX ZR 285/14) kann eine Beraterhaftung wegen Insolvenzverschleppung bereits greifen, wenn der Berater auch (nur) mit der Erstellung eines Jahresabschlusses für eine GmbH beauftragt war.

Mit seinem neuen Urteil stellt der BGH darüber hinaus die grundsätzliche Schutzwirkung von Beratungsverträgen für Dritte ausdrücklich fest. Zwar habe der Beratungsvertrag lediglich mit der Gesellschaft bestanden, jedoch sei die persönliche
Einbeziehung der Geschäftsführer der Gesellschaft in den Schutzbereich des Beratungsvertrages nach den Grundätzen des Rechtsinstituts des Vertrags mit Schutzwirkung zugunsten Dritter geboten.

Auch faktische Geschäftsführer können demnach dem Drittschutz unterfallen, da sie die gleichen (Insolvenzantrags-)Pflichten treffen, wie formale Geschäftsführer. Der Drittschutz für Geschäftsführer bestimmt sich im Einzelfall nach dem Näheverhältnis der Hinweis- und Warnpflichten zu der vertraglich geschuldeten Hauptleistung.

Bewertung

Das Urteil des BGH stellt eine weitere Ausweitung der Beraterhaftung dar – Geschäftsführer und leitende Mitglieder der Überwachungsorgane sind nun auf ihre Pflichten bei einem möglichen Insolvenzgrund hinzuweisen, sobald entsprechende Anhaltspunkte bekannt sind, offenkundig vorliegen oder sich dem Beratenden aufdrängen, und wenn zudem angenommen werden muss, dass dem Mandanten die mögliche Insolvenzreife nicht bewusst ist.

Folgen für die Praxis

Mit der gesteigerten Haftungsgefahr geht die Empfehlung einher, während der Gestaltung neuer Beratungsverträge und laufender Beratungen ein besonderes Augenmerk auf mögliche Insolvenzgründe zu richten. Dies dürfte nicht nur für Rechtsanwälte und Steuerberater, sondern in besonderem Maße auch für Unternehmensberater gelten, da diese in der Regel vertiefte Einblicke in das Zahlenwerk des (zukünftigen) Schuldners haben.

Autor

Reinhard Willemsen

Commercial.Restructuring: Gläubigerbenachteiligende Herstellung einer Aufrechnungslage

BGH-Urteil vom 19. Oktober 2023, IX ZR 249/22

Ausgangssituation

Der BGH hat sich mit Urteil vom 19. Oktober 2023 (IX ZR 249/22) erneut zur Zulässigkeit der Aufrechnung in Insolvenzverfahren geäußert. Dabei stellte er klar, dass die Herstellung einer Aufrechnungslage mit (Schadensersatz-)Forderungen aus anderen Vertragsverhältnissen gläubigerbenachteiligend sein kann. Dies gilt selbst dann, wenn eine im Voraus erklärte außerordentliche Kündigung wirksam ist.

Sachverhalt

Die Beklagte hatte die Insolvenzschuldnerin auf der Grundlage zweier Auftragsschreiben mit Metallbauarbeiten beauftragt. Sie kündigte – neben weiteren – diese Verträge außerordentlich und fristlos gemäß § 8 Abs. 2 VOB/B nachdem sie von dem Insolvenzantrag der Schuldnerin Kenntnis erlangte und nahm die bis dahin erbrachten Arbeiten ab.

Der Insolvenzverwalter nahm die Beklagte auf Zahlung des restlichen Werklohns für Metallbauarbeiten der Schuldnerin auf der Grundlage der beiden Auftragsschreiben gemäß zweier Schlussrechnungen in Höhe von rd. TEUR 182 in Anspruch. Die Beklagte rechnet mit streitigen Schadensersatzansprüchen aus einem anderen (ebenfalls außerordentlich und fristlos gekündigten) Bauvorhaben in Höhe von rd. EUR 383.000 auf.

Das Landgericht hatte unter Berücksichtigung von Abzügen wegen nicht erbrachter Teilleistungen der Klage in Höhe von rd. EUR 173.000 stattgegeben. Die Berufung der Beklagten hatte nur insoweit Erfolg, als hinsichtlich eines Betrags von EUR 10.000 eine Verurteilung Zug um Zug gegen Stellung von Gewährleistungsbürgschaften ausgesprochen wurde. Mit der Revision verfolgte die Beklagte ihren Klageabweisungsantrag daher weiter.

Zulässigkeit der Aufrechnung im Insolvenzverfahren im Allgemeinen

Im Grundsatz setzt die Aufrechnung zwei selbstständige Forderungen voraus, die in einem Gegenseitigkeitsverhältnis stehen und gleichartig sind, § 387 BGB. Im Kontext eines Insolvenzverfahrens kann es jedoch zu einer Kollision des Grundsatzes der Gläubigergleichbehandlung auf der einen Seite und dem Interesse des einzelnen Forderungsgläubigers auf der anderen Seite kommen. Dem versuchen die §§ 94 ff. InsO Rechnung zu tragen. Gemäß § 94 InsO wird das Recht zur Aufrechnung durch die Eröffnung des Insolvenzverfahrens nicht berührt, wenn ein Insolvenzgläubiger zur Zeit der Eröffnung kraft Gesetzes oder auf Grund einer Vereinbarung zur Aufrechnung berechtigt ist. Der Zeitpunkt der Eröffnung des Insolvenzverfahrens und die Aufrechnungslage sind demnach entscheidend, wenn es um die Frage geht, ob insolvenzrechtliche Aufrechnungsverbote greifen. Nicht schutzwürdig sind Gläubiger, die ihr Aufrechnungsrecht durch eine anfechtbare Rechtshandlung erlangen. Die Aufrechnung ist gemäß § 96 Abs. 1 Nr. 3 InsO unzulässig. Da sich der § 96 Abs. 1 Nr. 3 InsO auf die allgemeinen Vorschriften über die Insolvenzanfechtung (§§ 129 ff. InsO) bezieht, sind sämtliche Merkmale einer anfechtbaren Rechtshandlung zu erfüllen. Es muss dementsprechend eine gläubigerbenachteiligende Rechtshandlung und ein Anfechtungsgrund (z. B. § 130 InsO) vorliegen.

Das Urteil

Der BGH stellte fest, dass die Aufrechnung der Beklagten nach § 96 Abs. 1 Nr. 3 InsO i.V.m. § 130 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 InsO unzulässig war. Aus der Wirksamkeit der Sonderkündigung folge nicht, dass die Beklagte mit ihrem an die Kündigung anknüpfenden Mehrkostenerstattungsanspruch aufrechnen könne. Die Aufrechnungslage mit etwaigen Gegenforderungen aus § 8 Abs. 2 Nr. 2 Satz 2 VOB/B wurde erst durch die in Kenntnis des Eigenantrags erklärte Kündigung hergestellt. Daher war die Aufrechnung der Beklagten gegenüber den Vergütungsansprüchen der Insolvenzschuldnerin unzulässig.

Nach Auffassung des BGH waren die Voraussetzungen der Anfechtung nach § 130 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 InsO gegeben, weil die Kündigung aus wichtigem Grund dazu geführt hat, dass sich die Forderung des Insolvenzschuldners auf Werklohn und die Gegenforderung auf Schadensersatz aus einem anderen Vertragsverhältnis aufrechenbar gegenüberstanden. Die Aufrechnung war aus Sicht des BGH auch gläubigerbenachteiligend. Die Gläubigerbenachteiligung war jedenfalls selbst dann geben, wenn die Rechtshandlung, die die Aufrechnungslage herbeiführt, der Insolvenzmasse auch Vorteile verschafft hat, weil die Forderungen aus unterschiedlichen Verträgen stammen.

Die Revision der Beklagten hatte daher keinen Erfolg.

Fazit

Die Entscheidung des BGH ist vor allem mit Blick auf die Anzahl zunehmender Insolvenzverfahren im Baugewerbe beachtlich. Insolvenzverwalter können sich (auch weiterhin) unmittelbar auf die Unwirksamkeit einer Aufrechnung nach § 96 Abs. 1 Nr. 3 InsO berufen. Der BGH betont dabei explizit die Trennung zwischen insolvenzrechtlich unwirksamen Rechtshandlungen und dem Grundgeschäft (wie hier der Kündigung).

Die Wirksamkeit des außerordentlichen Kündigungsrechts gemäß § 8 Abs. 2 VOB/B bleibt daher im Grunde zwar bestehen. Allerdings steht sie der Unwirksamkeit der Aufrechnung nicht entgegen. Der aus einer außerordentlichen Kündigung entstehende Schadensersatzanspruch soll im Ergebnis also nicht dazu führen, dass Auftraggeber ihre Nachteile monetarisieren und sich so schadlos halten können. Zweifelsfrei kann das Recht zur außerordentlichen Kündigung zwar dazu beitragen, dass der Auftraggeber sich zügig vom Vertrag lösen und ohne Rücksicht auf das Insolvenzrecht das eigene Interesse verfolgen können. Zu einer wirtschaftlichen Aufwertung der Schadensposition (durch Aufrechnung statt Forderungsanmeldung zur Insolvenztabelle) führt das insolvenzfeste Kündigungsrecht aber nicht.

Daher sollten nach wie vor schon während der Vertragsverhandlungen geeignete Sicherheiten (z. B. Drittsicherheiten) in Betracht gezogen werden, um wirtschaftlichen Risiken, die im Zuge der Insolvenz des Vertragspartners entstehen können, abzusichern.

Autoren

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