14.07.2025

Aufsehenerregendes Urteil des Sozialgerichts München zur Telemedizin

In seiner ausführlich begründeten Entscheidung vom 29.04.2025 (Az. S 56 KA 325/22) befasste sich das Sozialgericht München ausführlich (84 Seiten) mit der Frage, in welchem Umfang ver-tragsärztliche Anbieter von Videosprechstunden und digitale Gesundheitsplattformen vertragsarzt-rechtliche, berufsrechtliche und datenschutzrechtliche Vorgaben einhalten müssen. Im Folgenden fassen wir die wesentliche Inhalte des Urteils (gar nicht so) kurz zusammen. Bitte beachten: Es handelt sich um eine erste Einordnung. Und: Die Verkürzung soll der Lesbarkeit die-sen, es liegt in der Natur der Sache, dass dabei Details außer Acht bleiben.

1 Generelle Einordnung

Vorab zu generellen Einordnung: Das Urteil des SG München betrifft direkt nur die beklagte Plattform einerseits und gesetzlich Krankenversicherte mit Wohnsitz in Bayern andererseits. Es betrifft also weder alle Plattformen/Videosprechstundenanbieter noch alle Patienten in Deutschland. Es ist ein erstinstanzliches Urteil, gegen das sicherlich Berufung eingelegt werden wird. Aber: Die ausführlichen Erwägungen werden absehbar von anderen Behörden und Gerichten bei deren Entscheidungsfindung herangezogen werden. Es ist also sehr sinnvoll, sich mit den Urteilsgründen zu befassen.

Die klagende Kassenärztliche Vereinigung („KV“) hat auch keinesfalls in allen Belangen obsiegt: Die Kosten des Rechtsstreits sind jeweils beinahe hälftig zu tragen, d.h. letztlich „Unentschieden“. Für die Digital Health-Branche ist wichtiger, was untersagt wurde, daher wird nur an wenigen Stellen geschildert, welche Klageanträge gescheitert sind.

Im Einzelnen:

2 Worum ging es?

Geklagt hatte eine KV gegen eine bekannte Videosprechstundenplattform („Plattform“), die bundesweit telemedizinische Videosprechstunden und weitere digitale Leistungen anbietet.

Die KV machte zahlreiche Unterlassungsansprüche gegen die von der Plattform angebotenen Leistungen und ihren Internetauftritt geltend. Die KV sah ihren Sicherstellungsauftrag (§ 75 SGB V) durch das Geschäftsmodell der Plattform beeinträchtigt und monierte Verstöße gegen Marktverhaltensnormen. 

Die Plattform verfügte über die erforderlichen Zertifizierungen nach Anlage 31b Bundesmantelvertrag – Ärzte (BMV-Ä) und bot ihre Leistungen sowohl Vertragsärzten als auch Privatärzten an. Neben der reinen Videodienstleistung wurden weitere Services wie eine zentrale Patientenakte, Registrierungsmöglichkeiten sowie zusätzliche Servicefunktionen angeboten. Ärzte zahlten für die Leistungen der Plattform pro durchgeführter Videosprechstunde eine Vergütung, die sich prozentual am erzielten ärztlichen Honorar orientierte. Für bestimmte Leistungen war eine vorherige Registrierung der Patienten erforderlich. Die Plattform vermittelte Patientenkontakte an teilnehmende Ärzte und ermöglichte die Weiterleitung von E-Rezepten an Versandapotheken. 

Im Laufe des Verfahrens hat die KV ihre Klageanträge mehrfach erweitert und angepasst. Zuletzt beantragte sie insbesondere Unterlassung hinsichtlich folgender Verhaltensweisen der Plattform:

  • Registrierungspflicht von Patienten vor Inanspruchnahme der Videosprechstunde,
  • Führung einer Patientenakte,
  • Einschränkung der freien Arztwahl auf der Plattform,
  • irreführende Werbung und exklusive Kooperationen mit Apotheken,
  • erfolgsabhängige Vergütungsmodelle.
3 Entscheidungsgründe

Das Sozialgericht München prüfte die Zulässigkeit und Begründetheit sämtlicher Anträge differenziert und ausführlich. Zu den einzelnen Anträgen: 

3.1 Zur Patientenakte

Zunächst stellte das Gericht klar, dass es sich bei dem elektronischen Dokumentenordner, den die Plattform zum Ablegen von Behandlungsdokumentationen anbietet, um eine elektronische Patientenakte handle. Das Gericht ist damit nicht der Argumentation der Plattform gefolgt, wonach sie keine Patientenakte führe, sondern es sich nur um eine „elektronische Dokumentation“ handele. Vielmehr sei nach Ansicht der Kammer nicht ersichtlich, „worum es sich hierbei handeln soll, wenn nicht um eine Patientenakte“, da die Plattform selbst angegeben habe, dass die Ärzte in den vor ihr angelegten elektronischen Ordnern die Behandlungsdokumentationen ablegen sollen.

Nach Auffassung des Gerichts greife die Plattform hiermit in den gesetzlich vorgegebenen Regelungsrahmen ein, den sie durch den Sicherstellungsauftrag zu bewahren habe. Sie sei nicht berechtigt, für den Arzt eine Patientenakte zu führen, auch nicht, falls der Patienten seine Einwilligung zur Speicherung der Daten erteilt habe. Bei der Plattform handele es sich um einen zertifizierten Videodienstanbieter i. S. v. § 395 Abs. 1 SGB V i. V. m. Anlage 31b zum BMV-Ä (vgl. LSG Bayern, Beschl. v. 26.06.2023, Az. L 12 KA 19/22 B ER). Als solche beschränke sich ihre Mitwirkung an der ambulanten Versorgung der gesetzlich Versicherten allein auf die technische Durchführung der Videosprechstunde. Sonstige Aufgaben oder Befugnisse hinsichtlich der Patientenbetreuung oder -steuerung seien im SGB V oder in den Anlagen zum BMV-Ä nicht vorgesehen. Damit ergäbe sich aus der Systematik der Regelung der Aufgaben, Rechte und Pflichten des zertifizierten Videodienstanbieters, „dass keine Aufgaben, Rechte und Pflichten, deren Erfüllung dem Vertragsarzt obliegen, von diesem an den Videodienstanbieter übertragen werden dürfen, sofern sich entsprechendes nicht als unerlässlicher Annex der Aufgaben der technischen Durchführung der Videosprechstunde selbst ergibt.“

Das Gericht meint zudem, dass die Führung einer Patientenakte bei der Plattform auch gegen § 630f BGB verstoße. Nach dieser Regelung liege die Pflicht zur Führung der Patientenakte alleine beim Arzt. Die Argumentation, dass sich Ärzte für die Führung von Patientenakten auch externer Dienstleister bedienen können, überzeugte das Gericht nicht. Denn für Cloud-Anbieter würden besondere technische und organisatorische Sicherheitsmaßnahmen gelten, bei denen nicht ersichtlich sei, dass die Plattform diese erfülle. Daneben ergäbe sich auch aus § 341 SGB V keine Berechtigung der Plattform, eine Patientenakte zu führen, da die Norm eine versichertengeführte Akte voraussetze. Mangels Berechtigung zur Führung einer Patientenakte, könne auch eine datenschutzrechtliche Einwilligung der Versicherten diese Berechtigung nach Ansicht des Gerichts nicht begründen.  Die Anlage eines elektronischen Dokumentenordners stellte daher einen Verstoß gegen gesetzliche Vorgaben der vertragsärztlichen Versorgung und damit einen Eingriff in den Sicherstellungsauftrag der KV dar. § 630f BGB sei eine Marktverhaltensnorm, weshalb die Plattform letztlich gegen §§ 8, 3 UWG verstoße. 

Erste Bewertung: Die Abgrenzung der an der vertragsärztlichen Versorgung Beteiligten nach Aufgaben, Rechten und Pflichten drängt sich nicht auf. Allerdings erscheint eine differenzierte Auseinandersetzung mit der BSG-Rechtsprechung (Urteil vom 10. 12. 2008 - B 6 KA 37/07 R) sinnvoll („Im Geltungsbereich des SGB V ist die Weitergabe von Patientendaten durch Leistungserbringer nur dann und in dem Umfang erlaubt, in dem bereichsspezifische Vorschriften über die Datenverarbeitung im SGB V dies gestatten; die allgemeinen Regelungen des Datenschutzes, die die Datenübermittlung bei Vorliegen einer Einwilligungserklärung des Betroffenen erlauben, finden insoweit keine Anwendung.“). 

Lösungen erscheinen technisch umsetzbar. Insgesamt ist fraglich, inwieweit diese Einschränkungen zeitgemäß sind und ob nicht der Gesetzgeber an dieser Stelle klarstellend tätig werden sollte.

 

3.2 Zur Registrierungspflicht

Das Gericht urteilte auch, dass die Plattform ihre Nutzer für eine Videosprechstunde nicht zur vorherigen Registrierung verpflichten darf. 

Nach § 5 Abs. 1 Nr. 8 Anlage 31 b BMV-Ä muss ein Versicherter einen Videodienst nutzen können, ohne sich vorher registrieren zu müssen. Nach der neuen Fassung ist weiter den Versicherten ohne Registrierung ein „leichter Zugang“ zur Videosprechstunde, insbesondere ohne weitere Aufforderung zur Registrierung, zu ermöglichen. Den Versicherten ohne Registrierung ist ein deutlich sichtbarer Zugang zur Videosprechstunde auf allen unterstützen Plattformen (app- oder webbasiert) anzubieten.

Vor Einleitung des Einstweiligen Rechtsschutzverfahrens, welches der Klage vorausgegangen ist, sah die Plattform eine Registrierungspflicht vor. In der Folgezeit sei zwar neben dem Zugang mit Registrierung die Nutzung der Videosprechstunde über Kontaktaufnahme per E-Mail möglich gewesen. Das reichte dem Gericht als „leichter Zugang“ zur Videosprechstunde im Sinne des BMV-Ä aber nicht aus. Denn der Patient habe den Zugang zur Videosprechstunde nicht selbst herstellen können, sondern sei auf Mitarbeit und Rückantwort durch einen Mitarbeiter der Plattform angewiesen gewesen.

In dem Verstoß gegen § 5 Abs. 1 Nr. 8 Anlage 31 b BMV-Ä liege ein Eingriff in den Sicherstellungsauftrag der KV, da es sich um eine Regelung der vertragsärztlichen Versorgung handele. 

Erste Bewertung: Die Wertung ist zunächst nachvollziehbar. Es drängt sich nicht auf, dass der Weg per E-Mail, als Alternative zur Registrierung, ein leichterer Zugang zur Videosprechstunde ist. Im Internet verbreitet, zumal in Webshops, ist ein Fortfahren „als Gast“. Auf einem anderen Blatt steht, ob nicht § 5 Abs. 1 Nr. 8 Anlage 31 b BMV-Ä angepasst werden sollte: Eine Registrierung auf einer Plattform – wenn der Patient diesen Weg nutzen möchte – stellt keine übermäßige Anforderung dar. 

3.3 Zur freien Arztwahl

Das Gericht hielt auch einen weiteren Unterlassungsanspruch der KV aus § 1004 BGB analog für begründet, weil die Verfahrensabläufe bei der Plattform nach Auffassung des Gerichts gegen das Recht der gesetzlich Versicherten aus § 76 Abs. 1 Satz 1 SGB auf freie Arztwahl verstießen und dadurch wiederum der Sicherstellungsauftrag der KV berührt sei. 

Nach § 76 Abs. 1 Satz 1 SGB V steht gesetzlich Versicherten das Recht zu, den behandelnden Arzt unter den zur vertragsärztlichen Versorgung zugelassenen Leistungserbringern frei wählen können. Hiergegeben habe die Plattform verstoßen. Das Gericht sah es als erwiesen an, dass die gesetzlich Versicherten nach Registrierung/Einloggen im Portal lediglich einen Zeitraum auswählen konnten, in dem sie sich die Videosprechstunde einrichten konnten. Die über die Terminanfrage informierten Ärzte hätten dann entschieden, ob sie den Termin übernehmen oder nicht. Damit hätten die Versicherten nicht die Möglichkeit gehabt, selbst unter den Ärzten auszuwählen, die über die Plattform Videosprechstunden anboten.

Das Gericht war auch der Meinung, dass es beim zeitweisen Einsatz von menschlichen „Telemedizinischen Assistenten“ nicht darauf ankam, dass diese den „passenden" Arzt heraussuchten. Entscheidend sei vielmehr, dass die Terminanfrage des Versicherten für alle Ärzte entsprechend der vom Patienten getroffenen Vorauswahl eingestellt wurde und die Ärzte entscheiden konnten, ob sie die Terminanfrage annehmen. Denn auch in diesem Ablauf könne der Versicherte nicht selbst einen Arzt wählen. 

Erste Bewertung: Das sollte so nicht stehen bleiben. Schon ein Vergleich mit den Realitäten der physischen Versorgung zeigt: In jeder Praxis/jedem MVZ mit mehr als einem Behandler ist für den Patienten nicht sicher, wer in am vereinbarten Termin behandelt – und sei es nur aufgrund von kurzfristiger Vertretung im Krankheitsfall. Jeder Patient hat dabei natürlich das Recht, die Behandlung im Einzelfall zu verweigern – ein Erzwingen einer Behandlung bei einem Arzt, der das nicht möchte, erscheint praxisfern. Hier ist, entweder gesetzlich oder noch besser auf der Ebene der Partner der Selbstverwaltung, eine praktikable Lösung zu suchen und zu finden.

3.4 Übermittlung geschilderter Symptome/Nutzung von Fragebögen

Die Plattform hat die Übermittlung von Patienten geschilderter Symptome an den Arzt zu unterlassen, so das Gericht, es sei denn, der Versicherte stimmt nach Beginn der Videosprechstunde zu.

Die Teilnahme der Plattform an der Versorgung sei auf die technische Durchführung an der Videosprechstunde beschränkt, die Delegationsvereinbarung entspreche nicht den Anforderungen der Anlage 24 BMV-Ä: Der Arzt nehme seine Pflichten, konkret Auswahlpflicht, Anleitungspflicht sowie Überwachungspflicht gegenüber den Mitarbeitern der Plattform nicht wahr. 

Vor allem aber sieht das Gericht durch die Erhebung der Daten und Weiterleitung an die Arzt die Gefahr, dass „bereits der Zugang zur Nutzung der Plattform nicht ermöglicht wird, wenn Symptome nicht geschildert werden“. Die Übermittlung an den Arzt vor Behandlungsbeginn berge die Gefahr, dass der Arzt die Behandlung erst gar nicht übernehme.

Ferner entschied das Gericht, dass die Plattform nicht unter Verwendung eines Fragebogens durch nichtärztliches Personal im Vorfeld des Arzt-Kontakts beurteilen dürfe, ob ein gesetzlich Versicherter zur Behandlung im Rahmen einer Videosprechstunde bereit sei.

Zumindest in der Vergangenheit habe die Plattform auch sog. „Telemedizinische Assistenten“ eingesetzt. Diese haben Beurteilungen anhand von ärztlich erarbeiteten Leitlinien eingeholt, ob das Anliegen des Patienten überhaupt für eine telemedizinische Behandlung geeignet sei. Anhand von klassischen Notfallleitlinien wurde ebenfalls eine Beurteilung eingeholt, ob ein Notfall vorliege und der Patient daher in die Notaufnahme vor Ort müsse. In entsprechenden eidesstattlichen Versicherungen sei dargelegt worden, dass die Telemedizinischen Assistenten Notfälle ausgesondert hätten. Letztlich hätten sie entschieden, ob Terminanfragen den Ärzten als Termin eingestellt wurden.

Das Gericht entschied, dass die Plattform nicht berechtigt sei, eine solche Einschätzung vornehmen zu lassen. Dies begründete das Gericht insbesondere damit, dass sich die Teilnahme einer zertifizierten Videodienstanbieterin an der vertragsärztlichen Versorgung auf die technische Durchführung der Videosprechstunden beschränke. Sie könne sich auch nicht auf eine zwischen ihr und den Ärzten abgeschlossene Delegationsvereinbarung berufen. Die Vereinbarung erfülle nicht die an solche Vereinbarungen gestellten Anforderungen nach Anlage 24 BMV-Ä: Den Arzt selbst träfen Auswahlpflicht, Anleitungspflicht und Überwachungspflicht.

Auch wenn die Plattform zwischenzeitlich keine Telemedizinischen Assistenten mehr einbinde, sah das Gericht eine Wiederholungsgefahr und bejahte einen Unterlassungsanspruch der KV.

Erste Bewertung: Auch hier hilft schon der Vergleich mit der physischen Versorgung in Praxis oder MVZ zu erkennen, dass eine praktikable Lösung gefunden werden muss. In jeder größeren Einheit ist gelebte Praxis, dass durch die Abfrage von Symptomen Grundlage für logistische Entscheidungen wird, insbesondere: Welcher Behandler wird wie schnell mit dem Patienten befasst? Im Zweifel sind die Partner des Bundesmantelvertrags aufgefordert, die Anlage 24BMV-Ä nachzuschärfen.

3.5 Zu unzulässiger Werbung

Das Gericht sprach der KV gegen die Plattform einen Unterlassungsanspruch hinsichtlich der Werbung „Tschüss Wartezimmer. Hallo Online-Arzt - Arztgespräch, Privatrezept und Krankschreibung in Minuten.“ zu, da diese Werbung gegen § 9 Heilmittelwerbegesetz (HWG) verstoße.

Nach § 9 Satz 1 HWG ist eine Werbung für die Erkennung oder Behandlung von Krankheiten, Leiden, Körperschäden oder krankhaften Beschwerden, die nicht auf eigener Wahrnehmung an dem zu behandelnden Menschen oder Tier beruht (Fernbehandlung), unzulässig. Nach Satz 2 ist Satz 1 nicht anzuwenden auf die Werbung für Fernbehandlungen, die unter Verwendung von Kommunikationsmedien erfolgen, wenn nach allgemein anerkannten fachlichen Standards ein persönlicher ärztlicher Kontakt mit dem zu behandelnden Menschen nicht erforderlich ist.

Nach Auffassung des Gericht bewerbe die Plattform ein umfassendes, nicht auf bestimmte Krankheitsbilder eingeschränktes digitales Primärversorgungsmodell (vgl. BGH, Urt. v. 09.12.2021, Az. ZR 146/20, Rn. 61). Die Kombination „Tschüss Wartezimmer" und „Hallo Online Arzt" enthalte die Aussage, dass die ärztliche Versorgung ohne einen „klassischen" Arztbesuch möglich' sei. Diese Aussage würde durch den Zusatz „Arztgespräch, Privatrezept und Krankschreibung in Minuten" verstärkt. Denn letztlich handele es sich bei diesen Leistungen um das, was ein erkrankter Versicherter erwarte, wenn er davon ausgeht, dass er so erkrankt ist, dass ein Arztbesuch erforderlich sei, weil er eine Medikation benötigt und er arbeitsunfähig ist. 

Das SG München urteilte, der Verstoß gegen § 9 Satz 2 HWG verletzte den Sicherstellungsauftrag der KV, zudem handele es sich bei § 9 Satz 2 HWG um eine Marktverhaltensregelung im Sinne von § 3a UWG.

Erste Bewertung: Letztlich referiert das SG München an dieser Stelle den BGH mit seiner (unbefriedigenden) Rechtsprechung zu Leitlinien und GBA-Richtlinien. Hier ist bekanntermaßen der Gesetzgeber gefordert.

Immerhin stellt das Gericht unter Verweis auf das BGH-Urteil vom 9.12.2021 (Az: I ZR 146/20) auch fest: „Daher kann nicht davon ausgegangen werden, die ärztliche Beratung und Behandlung im persönlichen Kontakt zwischen Arzt und Patient in physischer Präsenz stelle weiterhin den „Goldstandard“ ärztlichen Handelns da und jeder Krankheitsverdacht erfordere grundsätzlich eine Basisuntersuchung“.

3.6 Zur Bewerbung einer DiGA

Das Sozialgericht moniert die Bewerbung einer DiGA als Verstoß gegen § 5 Abs. 1 UWG. 

Die Bewerbung des Angebotes, über eine Videosprechstunde die Verordnung der DiGA zu ermöglichen, sei unlauter, denn sie enthalte unwahre Angaben über die wesentlichen Merkmale des  Anwendungsbereiches der DiGA. Die DiGA kann nur für die Diagnosen F32.0, F32.1, F33.0 und F33.1 verordnet werden, nicht aber für die Diagnosen F32.2, F32.3, F33.2 und F33.3. Die Plattform hatte allgemeiner mit der Angabe „Einzelne oder wiederkehrende depressive Episoden (ICD-Diagnosen F32 oder F33)" geworben.

So läge eine produktbezogene Irreführung vor, denn die Plattform erwecke den Eindruck, dass die DiGA „einen wesentlich weitgehenderen Anwendungsbereich hat, als es tatsächlich der Fall ist“. Damit sei die Angabe geeignet, Versicherte zu veranlassen, eine Videosprechstunde über die Plattform in Anspruch zu nehmen, um sich  die die DiGA verordnen zu lassen. Versicherte verfolgten nämlich „durchaus aufmerksam, welche Diagnosen für sie gestellt werden und welche lCD Codierungen verwendet werden“. Die beanstandete Aussage erwecke außerdem gerade bei Versicherten, denen nicht bekannt ist, dass die lCD F32 und F33 mehrere Unterdiagnosen umfassen, den Eindruck, dass die DiGA in jedem Fall für sie in Betracht komme.

Erste Bewertung: Das Gericht wägt die Argumente gegeneinander ab, und das ist seine Aufgabe. Es hat sich dann aber offensichtlich für eine sehr restriktive Auslegung der wettbewerbsrechtlichen Vorschriften entschieden. Ob eine nächste Instanz diese Wertung teilt, darf man optimistisch bezweifeln. 

3.7 Zum Vorwurf von Beratungsleistungen der Plattform

Keinen Erfolg hatte die KV mit Ihrem Vortrag, aus ihrem Sicherstellungsauftrag folge, dass sie das ausschließliche Recht habe, während der Bereitschaftsdienstzeiten im Sinne der Bereitschaftsdienstordnung gesetzlich Versicherte zu beraten oder beraten zu lassen.

Nach Ansicht des SG verletzt das Ermöglichen von Videosprechstunden und die Tätigkeit der Plattform als Videodienstanbieter während der Bereitschaftsdienstzeiten den Sicherstellungsauftrag der KV nicht. Aus dem Sicherstellungsauftrag gemäß § 75 SGB V folge nicht im Umkehrschluss, dass sie alleine zur Sicherstellung der Versorgung der gesetzlich Versicherten berechtigt ist und nur sie während der Bereitschaftsdienstzeiten berechtigt sei, Kontakte zwischen gesetzlich Versicherten und Vertragsärzten herzustellen und als Videodienstanbieter tätig zu sein. Das Gericht stellte zudem klar, dass die Plattform gesetzlich Versicherte nicht berät oder beraten lässt. Ihr Leistungsangebot beziehe sich alleine auf die Bereitstellung der Infrastruktur für Videosprechstunden und die Herstellung des Kontakts zwischen gesetzlich Versicherten und Vertragsärzten.

Den Antrag der KV, der Plattform jegliche Kontaktvermittlung und jedes Tätigwerden zu untersagen, das über die Tätigkeit als Videodienstanbieter hinausgeht, hielt das Gericht mangels schlüssigen Vorbringens der KV ebenfalls für unbegründet. Ein solch weiter Unterlassungsanspruch stehe der KV nicht zu.

Erste Bewertung: Die Ablehnung dieses Antrags ist zu begrüßen. Das wäre andernfalls zu weit gegangen - und der erste Schritt gewesen, die KVen als Anlaufstelle versorgungssuchender Patienten zu monopolisieren. Der Sicherstellungsauftrag sollte als Auftrag verstanden werden, nicht als Abwehrinstrumentarium gegenüber Anbietern, die ärztliche Versorgung für Patienten zugänglich machen.

3.8 Zum Vergütungsmodell für Ärzte

Das SG München entschied, dass die Plattform nicht berechtigt sei, von den Vertragsärzten eine Vergütung ihrer Leistungen als Videodienstanbieter erstens in Abhängigkeit von dem erzielten Honorar und zweitens nur dann zu verlangen, wenn eine Videosprechstunde zustande kommt. Nach Auffassung des Gerichts nehme die Plattform so an einem Verstoß der Vertragsärzte gegen § 31 Abs. 1 Berufsordnung für die Ärzte Bayerns (BayBOÄ) teil.

Nach § 31 Abs. 1 BayBOÄ ist es dem Arzt nicht gestattet, für die Zuweisung von Patienten oder Untersuchungsmaterial oder für die Verordnung oder den Bezug von Arznei oder Hilfsmitteln oder Medizinprodukten ein Entgelt oder andere Vorteile zu fordern, sich oder Dritten versprechen oder gewähren zu lassen oder selbst zu versprechen oder zu gewähren. Nach Ansicht der Kammer verstoße das Vergütungsmodell der Plattform gegen diese Regelung. 

Hierzu führt das Gericht aus: 

Denn das von dem Vertragsarzt gezahlte Entgelt stellt sich als ein Entgelt für die Zuweisung von Patienten dar. Die Beklagte weist den Vertragsärzten Patienten zu, indem sie über ihre Plattform den Kontakt zwischen dem gesetzlich Versicherten und dem Vertragsarzt herstellt und die technische Infrastruktur für die Videosprechstunde zur Verfügung stellt. Ohne ihre Dienste als Videodienstanbieter würde ein Kontakt zwischen dem gesetzlich Versicherten und dem Vertragsarzt nicht zustande kommen. Das seitens des Vertragsarztes zu zahlende Entgelt wird auch für diese Zuweisung gezahlt, da es nur anfällt, wenn eine Videosprechstunde zustande kommt. Dies belegt einen engen kausalen Zusammenhang zwischen der Vermittlung des Kontaktes gesetzlich Versicherter - Vertragsarzt und der Entstehung des Entgeltanspruchs der Beklagten.“

Einen verbotene Zuweisung gegen Entgelt begründet das Gericht ferner damit, dass sich die Höhe des Entgeltes nach dem durch die jeweilige Videosprechstunde von dem Vertragsarzt erzielten Honorar richte. Eine Kalkulation der Gebühr anhand der bei der Plattform entstehenden Vorhaltekosten sei nicht ersichtlich; dadurch würde kein Bezug zu anderen Parametern hergestellt, die belegen könnten, dass das Entgelt nicht für die Zuweisung gezahlt würde. Die Plattform hätte das Entgelt etwa von der Dauer der Sprechstunde abhängig machen oder unabhängig von Patientenkontakten eine feste Nutzungsgebühr vereinbaren können. 

Der Verstoß gegen § 31 Abs. 1 BayBOÄ verletzte wiederum den Sicherstellungsauftrag der KV. Vor diesem Hintergrund konnte die KV einerseits die Unterlassung der Vereinbarung einer solchen Vergütung, andererseits die Unterlassung der tatsächlichen Umsetzung beanspruchen.

Erste Bewertung: Die Entscheidung und die daraus erwachsenen Risiken sind ernst zu nehmen. Die Wertung des Gerichts hat nicht formal-juristisch direkte Wirkung auf Ärztinnen und Ärzte in anderen Bundesländern. Wohl aber indirekt, Ärztekammern und Strafverfolgungsbehörden (§§299a/299b StGB) könnten sich die Auffassung zu eigen machen. Das Risiko lässt sich aber durch entsprechende Vertragsgestaltung minimieren.

3.9 Zu Kooperation mit Apotheken

Die Plattform muss es nach der SG-Entscheidung ebenfalls unterlassen, für die Einlösung eines digitalen Rezepts als Versandapotheke eine bestimmte Kooperationsapotheke zu benennen. Sie hafte insoweit als Teilnehmerin, weil sie Vertragsärzte, die die Plattform nutzen, zu einem Verstoß gegen Marktverhaltensnormen (§ 31 Abs. 1 S. 5-7 SGB V, § 31 Abs. 2 BayBOÄ) anstifte.

Nach § 31 Abs. 2 BayBOÄ darf ein Arzt seinen Patienten nicht ohne hinreichenden Grund bestimmte Apotheken empfehlen oder seine Patienten an diese verweisen. § 31 Abs. 1 Satz 5 bis 6 SGB V regelt, dass die Versicherten unter den Apotheken, für die der Rahmenvertrag nach § 129 Abs. 2 SGB V Geltung hat, frei wählen können. Vertragsärzte dürfen soweit gesetzlich nicht etwas anderes bestimmt oder aus medizinischen Gründen im Einzelfall eine Empfehlung geboten ist, weder die Versicherten dahingehend beeinflussen, Verordnungen bei einer bestimmten Apotheke oder einem sonstigen Leistungserbringer einzulösen, noch unmittelbar oder mittelbar Verordnungen bestimmten Apotheken oder sonstigen Leistungserbringern zuweisen. Die Sätze 5 und 6 gelten auch bei der Einlösung von elektronischen Verordnungen.

Nach Ansicht des Gerichts liegt schon durch die Benennung einer bestimmten Apotheke als Versandapotheke auf dem Internetauftritt der Plattform eine unzulässige Verweisung im Sinne dieser Vorschriften vor. Keine Rolle spiele die Frage, ob die Vertragsärzte überhaupt konkret auf die Möglichkeit, über die Plattform Rezepte einzulösen bzw. auf die Versandapotheke selbst hinweisen. Ausreichend für einen Verstoß gegen das Verbot sei es, wenn der Arzt dem Versicherten eine bestimmte Apotheke nahelege (BGH, Urt. v. 13.01.2011, Az. I ZR 111/08, Rn. 27). Ein solches Nahelegen der Versandapotheke läge hier vor: Dem Vertragsarzt seien die werbenden Anpreisungen der Plattform zuzurechnen und damit auch die Benennung der Versandapotheke.

Klarstellend: Eine Weiterleitung des Rezeptes durch die Plattform an eine Kooperationsapotheke ist nach den Ausführungen des Gerichts zulässig, sofern sich ein gesetzlich Versicherter entschieden hat, das ihm ausgestellte Rezept in dieser Apotheke einzulösen. Nicht zu akzeptieren sei alleine die Benennung einer bestimmte Apotheke auf der Homepage, über die Zugang zur Videosprechstunde erfolgt.

Erste Bewertung: Die Entscheidung erscheint restriktiv, auch wenn sie in der Rechtsprechung der letzten Zeit durchaus Anknüpfungspunkte findet. Eventuell ist die Frage von Werbung und Verweisung spezifisch im Hinblick auf den digitalen Raum noch einmal ausführlicher aufzuarbeiten.

3.10 Weitere relevante Punkte

Das Gericht hatte über die zuvor genannten Punkte noch über eine Vielzahl weiterer Anträge der K zu entscheiden. Die KV wandte sich insbesondere gegen mehrere AGB-Klauseln sowie Werbeaussagen der Plattform. Das Gericht entschied u.a., dass Klauseln, die eine Behandlung ohne Vorlage der Gesundheitskarte erlauben oder Kündigungsrechte ohne sachlichen Grund einräumen, wegen Verstoßes gegen das Sachleistungsprinzips unwirksam seien. Zu unterlassen hat die Plattform nach der Entscheidung des Gerichts auch irreführende Werbung mit Testergebnissen ohne klaren Hinweis auf deren Geltungsbereich sowie bestimmte Werbeaussagen. Werbeaussagen der Plattform dürften auch nicht suggerieren, dass bestimmte Leistungen (wie das E-Rezept) nur über ihre Plattform erhältlich seien.

Zu guter Letzt: Das Gericht stellt – richtigerweise - fest, dass die KV eine Verletzung ihres Sicherstellungsauftrags im Bereich der Selektivverträge gemäß § 140a SGB V nicht geltend machen kann.

Autor/in
Dr. Thomas Willaschek

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Dr. Benjamin Effler

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