15.06.2018

Atomausstieg letzter Akt: Umsetzung des Atomausstiegsurteils des Bundesverfassungsgerichts

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Hintergrund

03.07.2018

Atomausstieg letzter Akt? Sind die neuen Entschädigungsregelungen für frustrierte Aufwendungen und nicht mehr verstrombare Elektrizitätsmengen im Atomgesetz verfassungsgemäß?

Der Deutsche Bundestag hat am 28. Juni 2018 – und damit kurz vor knapp - auf die verfassungsrechtlichen Mängel reagiert, die das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vom 6. Dezember 2016 zum Atomausstieg (BVerfGE 143, 246) höchstrichterlich beanstandet hat. Bis zum 30. Juni musste eine Lösung her. Doch die vom Gesetzgeber neu geschaffenen Entschädigungsregelungen in der 16. AtG-Novelle werfen neue Rechtsfragen auf, insbesondere die nach ihrer Verfassungsgemäßheit.
 

I. Die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts
Nach dem BVerfG-Urteil vom 6. Dezember 2016 musste der Gesetzgeber bis zum 30. Juni 2018 in Bezug auf den Atomausstieg einen verfassungsmäßigen Zustand herstellen. Dies erfolgt jetzt durch Entschädigungsregelungen, die durch das Sechzehnte Gesetz zur Änderung des Atomgesetzes (16. AtGÄndG) in das Atomgesetz eingefügt werden (vgl. BT-Drs. 19/2508). Da das Änderungsgesetz im Hinblick auf seine beihilferechtlichen Auswirkungen noch der Überprüfung durch die EU-Kommission bedarf, kann das Gesetz trotz der Beschlussfassung im Bundestag am 28. Juni 2018 nicht sofort in Kraft treten.

Das Bundesverfassungsgericht hatte eine Kompensation in zweifacher Hinsicht gefordert: Zum einen bedarf es eines angemessenen Ausgleichs für frustrierte Aufwendungen, die die Betreiber im Vertrauen auf den Bestand der Ende 2010 zusätzlich gewährten Elektrizitätsmengen getroffen hatten. Zum anderen ist eine Kompensationsregelung für die Strommengen erforderlich, die den Betreibern 2002 im Rahmen des „Energiekonsens“ (Atomausstieg I) zugestanden worden waren, die aber nunmehr – infolge des endgültigen Atomausstiegs II bis Ende 2022 – nicht mehr konzernintern verstromt werden können. Letzteres betrifft allein die Betreiber Vattenfall und RWE. E.ON verfügt noch über freie Kapazitäten, auch wenn sämtliche eigenen Mengen verstromt sind. EnBW ist nach eigenen Angaben nicht betroffen.

Neben dem Deutschen Bundestag hat sich auch der Bundesrat mit den Regelungen befasst (BR-Drs. 205/18). Auch eine Sachverständigenanhörung hat es dazu am 13. Juni 2018 im Umweltausschuss des Bundestages gegeben. Die vom Bundesrat erhobene Forderung, im Rahmen der gesetzlichen Neuregelung sicherzustellen, dass Reststrommengen nicht auf norddeutsche Kernkraftwerke (z.B. Emsland, Brokdorf) im Netzausbaugebiet übertragen werden dürfen – weil dann die Einspeisung regenerativer Energien eingeschränkt werde –, hat die Bundesregierung – zu Recht – zurückgewiesen (BT-Drs. 19/2705). Eine solche Einschränkung von Übertragungsmöglichkeiten müsste zu weiteren, nicht mehr erzeugbaren Elektrizitätsmengen führen. Das wirft erneut verfassungsrechtliche Fragen auf, insbesondere nach einem finanziellen Ausgleich. Im Ergebnis käme es zu einer noch größeren Belastung für den öffentlichen Haushalt.

II. „Angemessenheit“ der Kompensation von zentraler Bedeutung
Von entscheidender Bedeutung ist, ob durch die neuen Entschädigungsregelungen die verfassungsrechtlich gebotene Angemessenheit in Bezug auf frustrierte Aufwendungen und nicht mehr verstrombare Strommengen hergestellt wird. Denn die „Angemessenheit“ des Ausgleichs ist vom Bundesverfassungsgericht als zentrales Kriterium einer verfassungskonformen Regelung bestimmt worden. Fehlt es daran, wären die vom BVerfG aufgestellten Maßgaben verletzt. Fraglich ist also, ob der Gesetzgeber das ihm insoweit zukommende Gestaltungsermessen verfassungskonform ausgeübt hat.
Für den Ausgleich nicht verstrombarer Strommengen hatte das Gericht drei verschiedene Optionen eröffnet: Zunächst wäre eine zeitlich auskömmliche Laufzeitverlängerung bis zu dem Zeitpunkt denkbar, in dem die ausgleichspflichtigen Strommengen tatsächlich konzernintern verstromt sind. Das wäre – aus Sicht des Steuerzahlers – der mit Abstand kostengünstigste Weg. Er wurde indes nicht beschritten. Es bleibt vielmehr dabei, dass die Nutzung der Kernenergie „zum frühestmöglichen Zeitpunkt beendet werden soll“, d.h. es wird am Enddatum 31. Dezember 2022 unverändert festgehalten. Dieses Datum beruht indes auf einer rein politischen Festlegung, die bereits in der 13. AtG-Novelle im Jahr 2011 („Atomausstiegsgesetz“) vorgenommen wurde. Sodann besteht die Option, eine Weitergabemöglichkeit von Reststrommengen zu ökonomisch zumutbaren Bedingungen gesetzlich sicherzustellen oder – als dritte Möglichkeit – einen angemessenen finanziellen Ausgleich für konzernintern nicht verstrombare Reststrommengen zu gewähren.

III. Ausgleich für nicht mehr verstrombare Elektrizitätsmengen
Das neue Gesetz bestimmt mit § 7f AtG (neu) einen lediglich „konditionierten“ Geldausgleich für nicht mehr verstrombare Elektrizitätsmengen. Danach müssen sich die Kraftwerksbetreiber mit nicht verstrombaren Elektrizitätsmengen zunächst, d.h. primär, „ernsthaft darum bemühen“, diese Mengen an andere Kraftwerksbetreiber „zu angemessenen Bedingungen zu übertragen“, die zwar noch über Kernkraftwerke, aber nicht mehr über Elektrizitätskontingente zur Verstromung verfügen. Nur wenn und soweit Strommengen zu diesen Bedingungen nicht mehr übertragen werden konnten, greift dann – sozusagen subsidiär – eine finanzielle Kompensation.

Es ist mehr als fraglich, ob das Gesetz mit dieser Regelung den höchstrichterlichen Vorgaben gerecht wird: Der vom Bundesverfassungsgericht festgestellte Verstoß gegen Art. 14 Abs. 1 GG (Eigentum) und das Gleichheitsgebot aus Art. 3 Abs. 1 GG resultiert doch gerade daraus, dass es aufgrund des Ausstiegsgesetzes (13. AtG-Novelle) zu einem Nachfragemonopol hinsichtlich der nicht mehr verstrombaren Mengen kommt, also einer Situation, die per se keine „angemessenen Bedingungen“ für eine konzernübergreifende Veräußerung der Strommengen zulässt (vgl. BVerfGE 143, 246 (361)).
Der Gesetzgeber hat sich damit für ein Regelungsmodell entschieden, das die verfassungsgerichtliche Kritik am Atomausstieg im Kern ignoriert: Die in ihren Grundrechten verletzten Konzerne werden nicht etwa entschädigt, sondern sollen ihre Reststrommengen zu Bedingungen verkaufen, die das BVerfG als unzumutbar und gleichheitswidrig qualifiziert hat.
Hinzu kommt, dass das Gesetz keine Regelungen trifft, die Angemessenheit des Ausgleichs auf der Ebene der Anteilseigner zu schaffen, sondern es stellt insofern allein auf die Genehmigungsinhaber ab. Die Feststellungen des BVerfG bezogen sich indes auf die beschwerdeführenden Konzerngesellschaften RWE und Vattenfall, die an vorzeitig abgeschalteten Anlagen wie Krümmel oder in ihren Laufzeiten verkürzten Anlagen wie Gundremmingen beteiligt sind. Diese Regelung führt dazu, dass Ansprüche der Genehmigungsinhaber auf Ausgleich bei den Gemeinschaftsunternehmen, an denen Vattenfall beteiligt ist, in Höhe dieser Beteiligungsquote gekürzt werden. Es ist fraglich, ob die so konzipierte Regelung den Vorgaben des Urteils entspricht. Das BVerfG hatte es dem Gesetzgeber an sich leicht gemacht, indem es die verfassungswidrige Benachteiligung von RWE und Vattenfall in Bezug auf die Reststrommengen konkret beziffert hatte: Für RWE waren 40 TWh und für Vattenfall 46 TWh bestimmt worden. Die Gesetzesregelung bleibt hinter diesen Vorgaben zurück.

Schließlich führt die Entschädigungsregelung in § 7f AtG (neu) dazu, dass die genaue und endgültige Festsetzung des Ausgleichs erst nach der Abschaltung des letzten deutschen Kernkraftwerks mit Ablauf des 31. Dezember 2022 erfolgen kann. Das bedeutet weitere Rechtsunsicherheit für die Ausgleichsberechtigten, denn die behördliche Entscheidung darüber, ob die Übertragungsangebote „angemessen“ sind bzw. waren, ergeht erst nach dem 31. Dezember 2022 – im Zusammenhang mit der Entscheidung darüber, ob und in welcher Höhe ein Ausgleich gewährt wird. Wenn sich dann herausstellt, dass ein Ausgleichsberechtigter die Übertragung zu für den Übernehmenden günstigeren Konditionen hätte anbieten müssen, ist sein Ausgleichsanspruch insoweit ausgeschlossen.

IV. Ausgleich für frustrierte Aufwendungen
§ 7e AtG (neu) sieht einen angemessenen Ausgleich für Investitionen vor, die Kraftwerksbetreiber im Vertrauen auf die Ende 2010 zusätzlich gewährten Elektrizitätsmengen getroffen haben. Das Bundesverfassungsgericht hat das für eine Kompensation relevante „berechtigte Vertrauen“ auf die Zeit vom 28. Oktober 2010 bis zum 16. März 2011 beschränkt. Dabei kommt es nicht auf den Zeitpunkt der Leistungserbringung, sondern den der Vermögensdisposition an, z.B. die Eingehung einer vertraglichen Verpflichtung. Das im Gesetz formulierte Kausalitätserfordernis zwischen dem Entzug der 2010 gewährten Zusatzmengen und der Frustration von Investitionen ist dem Wortlaut nach zu eng gefasst. Investitionen sind zu berücksichtigen, wenn die Zusatzmengen dafür ein tragender, nicht aber der alleinige Grund waren. Auch der jetzt normierte Verweis im Atomgesetz auf den Rechtsgedanken des § 254 BGB (Mitverschulden) wirft für die Rechtsanwendung praktisch schwierige Abgrenzungs-, Bewertungs- und Beweisfragen auf. Erschwert wird die Problematik dadurch, dass für den auf die Kompensation gerichteten Ausgleichsantrag eine Ausschlussfrist von nur einem Jahr ab Inkrafttreten der neuen Regelung gilt.

V. Rechtsunsicherheit verbleibt
Mit der Neuregelung der §§ 7e-g AtG verbleiben mithin erhebliche Unsicherheiten: Sie resultieren nicht nur aus einer Reihe neuer Begriffe, sondern vor allem aus dem vom Gesetzgeber für die Entschädigung der nicht mehr verstrombaren Reststrommengen gewählten „konditionierten Entschädigungsmodell“, das so keiner der vom Bundesverfassungsgericht eröffneten Regelungsoptionen entspricht. Damit ist weiterer Streit über den Atomausstieg vorprogrammiert.

 

 

Prof. Dr. Tobias Leidinger
Rechtsanwalt
Fachanwalt für Verwaltungsrecht
Counsel
Luther Rechtsanwaltsgesellschaft mbH
Düsseldorf
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