18.09.2025
Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat sich in seinem Urteil vom 11. September 2025 (EuGH, C-38/24 - Bervidi) u.a. mit der Frage befasst, ob und inwieweit das Verbot der mittelbaren Diskriminierung wegen einer Behinderung eine Person, die selbst nicht behindert ist, sondern die ein Kind mit Behinderung betreut, schützt.
Im Ausgangsfall hatte eine Arbeitnehmerin ihren Arbeitgeber wiederholt aufgefordert, ihre Arbeitszeiten so anzupassen, dass sie sich um ihren schwerbehinderten Sohn kümmern kann. Der Arbeitgeber gewährte jedoch nur vorübergehende Erleichterungen. Die Klage der Arbeitnehmerin auf Feststellung einer Diskriminierung wurde in den Vorinstanzen abgewiesen. Der vorlegende italienische Kassationsgerichtshof wollte vom EuGH wissen, ob das Unionsrecht den Schutz vor mittelbarer Diskriminierung auf betreuende Angehörige erstreckt und ob Arbeitgeber verpflichtet sind, diesen gegenüber angemessene Vorkehrungen zu treffen.
Der EuGH entschied, dass die RL 2000/78/EG des Rates vom 27. November 2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf dahingehend auszulegen ist, dass das Verbot der mittelbaren Diskriminierung wegen einer Behinderung auch für Arbeitnehmer gilt, die nicht selbst behindert sind, sondern wegen der Unterstützung ihres behinderten Kindes diskriminiert werden. Zudem entschied er, dass Arbeitgeber verpflichtet sind, angemessene Vorkehrungen zugunsten solcher Arbeitnehmer zu treffen, sofern sie den Arbeitgeber nicht unverhältnismäßig belasten. Dabei stützt sich der EuGH auf eine systematische Auslegung der RL 2000/78/EG im Lichte der Charta der Grundrechte der EU sowie des Übereinkommens der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen.
Bereits im sogenannten „Coleman“-Urteil (Urteil vom 17. Juli 2008, C-303/06) hatte der EuGH entschieden, dass eine sog. assoziierte Diskriminierung von Eltern behinderter Kinder verboten ist. Vor diesem Hintergrund ist das Ergebnis wenig überraschend. Der EuGH stärkt den unionsrechtlichen Schutz vor Diskriminierungen im Arbeitsleben. Für betreuende Eltern von behinderten Kindern eröffnet sich damit ein unionsrechtlich abgesicherter Anspruch darauf, dass ihre besondere Situation berücksichtigt wird. Herausfordernd wird dagegen die Anschlussfrage, in welchen Fällen ebenfalls ein Schutz vor assoziierter Diskriminierung anzuerkennen ist.
Die Auslegung, was „angemessene Vorkehrungen“ sind, die ein Arbeitgeber zu treffen hat, obliegt den nationalen Gerichten. Ungeachtet dessen sollten Arbeitgeber auch im Lichte dieser Entscheidung entsprechende Ansprüche von Arbeitnehmern prüfen und ggf. Anpassungen stattgeben.
Dr. Astrid Schnabel, LL.M. (Emory)
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