09.02.2023

Erste Ansätze einer Europäischen Pflegestrategie – weiter im Blick zu behalten

Autoren: Tatjana Giutronich, LL.M., Dr. Daniel Schubmann und Robin Reichel

Hintergrund

Die Auswirkungen des demografischen Wandels zeigen sich insbesondere im Pflegebereich: So werden im Jahr 2050 ca. 38 Mio. EU-Bürger Pflege beanspruchen, 7 Mio. Menschen (+ 22,6 %) mehr als heute. Bezogen auf Deutschland wird die Zahl der Pflegebedürftigen bereits bis 2030 um 50 % steigen.1 Gleichzeitig weist der Pflegesektor in Deutschland schon heute ein Pflegekräftedefizit von 200.000 Pflegekräften auf; bis 2030 wird dieses auf ca. 500.000 anwachsen.2

Zur Bewältigung dieser massiv zunehmenden Versorgungslücke hat die Europäische Kommission jüngst eine umfangreiche Europäische Pflege- und Betreuungsstrategie („EU-Pflegestrategie“) vorgestellt.3 Ziel ist, hochwertige, bezahlbare und leicht zugängliche Pflege- und Betreuungsdienste in der gesamten EU zu gewährleisten und sowohl die Situation der Betreuungs- und Pflegebedürftigen als auch die Situation derjenigen, die sich professionell oder informell um sie kümmern, zu verbessern.

Mit diesem Beitrag geben wir – ohne Anspruch auf Vollständigkeit –  den wesentlichen Inhalt der EU-Pflegestrategie wider und zeigen auf, welche Entwicklungen im Blick zu behalten sind.


1 Pflegereport 2030 (Bertelsmann Stiftung), abrufbar unter: https://www.bertelsmann-stiftung.de/de/unsere-projekte/abgeschlossene-projekte/pflege-vor-ort/projektthemen/pflegereport-2030/ letzter Abruf: 23. November 2022.

2 https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/128103/Wir-wissen-dass-2030-circa-500-000-Pflegekraefte-fehlen-werden, letzter Abruf: 23. November 2022.

3 Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen zur Europäischen Strategie für Pflege und Betreuung vom 7.9.2022, COM(2022) 440; Vorschlag für eine Empfehlung des Rates über den Zugang zu bezahlbarer und hochwertiger Langzeitpflege vom 7.9.2022, COM(2022), 441.

Einordnung

Bereits im März 2021 wurde der Aktionsplan zur Umsetzung der europäischen Säule sozialer Rechte vorgestellt, mit dem 20 Grundsätzen zur Sicherstellung der (sozialen) Rechte in sämtlichen Lebenslagen aller EU-Bürger festgeschrieben wurden (u. a.: Recht auf bezahlbare und hochwertige Langzeitpflegedienste).4 Mit der EU-Pflegestrategie werden nun erstmals konkrete Maßnahmen vorgestellt, die zur Umsetzung dieser Grundsätze beitragen sollen und mit der die EU die Mitgliedstaaten bei der Verbesserung des Zugangs zu hochwertigen und erschwinglichen Betreuungs- und Pflegeangeboten, bei der Verbesserung der Arbeitsbedingungen und der Work-Life-Balance im Pflegesektor unterstützen will.

Dabei handelt es sich um einen Vorschlag der EU-Kommission für eine Empfehlung des Rats an die Mitgliedsstaaten. Die Empfehlung ist für die Mitgliedstaaten unverbindlich (Art. 288 UAbs. 5 AEUV). Die EU-Kommission wird innerhalb von fünf Jahren einen ausführlichen Bericht zum Stand der Umsetzung durch die Mitgliedstaaten vorlegen.


4 https://op.europa.eu/webpub/empl/european-pillar-of-social-rights/de/index.html?gclid=Cj0KCQiA99ybBhD9ARIsALvZavXxnatnEthWBMDAmFfwEQjJsUjyhKwDkiTGezLtkElVgiJiIFQ4HyYaAp2OEALw_wcB, letzter Abruf: 23. November 2022.

Ausgewählte Mittel

Entsprechend der Empfehlung sollen die Mitgliedstaaten nationale Aktionspläne aufstellen, um die Verfügbarkeit, die Zugänglichkeit und die Qualität der Pflege für alle Menschen in der EU zu verbessern. Im Einzelnen besteht die Empfehlung aus folgendem „Punkteplan“:

  • Personen mit Langzeitpflegebedarf sollen rechtzeitig umfassende und bezahlbare Pflegeleistungen erhalten.
  • Es soll ein vielfältiges und ausgewogenes Angebot an Langzeitpflegediensten (häusliche Pflege, gemeindenahe Pflege und stationäre Pflege) bereitgestellt werden.
  • Der Zugang zur Langzeitpflege soll durch den Abbau regionaler Unterschiede erleichtert werden. Auch Menschen mit Behinderungen soll der Zugang zu Langzeitpflegediensten und -einrichtungen gewährleistet werden.
  • Innovative Technologien und digitale Lösungen bei der Bereitstellung von Pflegediensten (auch zur Förderung einer eigenständigen Lebensführung) sind einzuführen.
  • Es sollen hohe Qualitätskriterien und -standards für alle Anbieter von Langzeitpflege (unabhängig von ihrem rechtlichen Status) festgelegt werden. Ein geeigneter Qualitätssicherungsmechanismus ist zu installieren.

Zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen (um letztlich mehr Menschen – insbesondere Männer - für den Betreuungs- und Pflegesektor zu gewinnen) sollen die Mitgliedstaaten folgende Maßnahmen ergreifen:

  • Vorantreiben von Tarifverhandlungen und des sozialen Dialogs zur gesellschaftlichen Anerkennung des Pflegeberufs
  • Gewährleistung höchster Standards hinsichtlich Sicherheit und Gesundheitsschutz bei der Arbeit
  • Regulierung und Professionalisierung von besonders schutzbedürftigen Arbeitskräften im Pflegesektor (pflegende Hausangestellte, im Haushalt lebende Pflegekräfte, Wanderpflegekräfte)
  • Schaffung und Verbesserung beruflicher Weiterbildungsangebote für Pflege- und Betreuungskräfte (auch im Hinblick auf digitale Kompetenzen)
  • Bekämpfung von Geschlechterstereotypen im Pflegebereich und Durchführung von Kommunikationskampagnen

Neben der Empfehlung wird die EU-Kommission ihrerseits u. a. die Einrichtung eines neuen sektoralen Dialogs für Sozialdienstleistungen auf EU-Ebene prüfen; Projekte und Forschungsvorhaben finanzieren; die Anwendung der EU-Standards für die Arbeitsbedingungen überprüfen; eine Bestandsaufnahme der derzeitigen Zulassungsbedingungen und Rechte von Langzeitpflegekräften aus Nicht-EU-Ländern vornehmen und die Durchführbarkeit von Programmen auf EU-Ebene prüfen, um Pflegekräfte anzuziehen.

Ausblick

Ein Einschreiten der EU zur Bewältigung der Versorgungslücke ist zu begrüßen. Die Etablierung der EU-Pflegestrategie steht jedoch erst am Anfang und wird vermutlich noch Jahre in Anspruch nehmen: Es bleibt abzuwarten, ob der Rat dem Vorschlag für die Empfehlung zustimmen wird; sowie ob und wie die Mitgliedstaaten die (unverbindliche) Empfehlung anschließend in ihren nationalen Gesetzgebungsverfahren umsetzen werden.

Aus Sicht von Pflegeheimbetreibern ist aufmerksam zu beobachten, welche Maßnahmen – neben staatlichen Angeboten und Hilfen – an die Privatwirtschaft durchgereicht werden (z. B. erhöhter Mindestlohn, Auferlegung erhöhter Sicherheits- und Gesundheitsstandards am Arbeitsplatz, Schulungspflichten etc.) und welche Mehrkosten hierdurch verursacht werden. Perspektivisch können sich solche Maßnahmen aber auch positiv auf die Geschäftstätigkeit auswirken: Sollte es gelingen, den Pflegeberuf attraktiver zu gestalten, besteht die Aussicht auf größere Pflegekapazitäten, die im Lichte des demografischen Wandels langfristig ausgeschöpft und zunehmend erweitert werden können.

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Autor/in
Dr. Daniel Schubmann

Dr. Daniel Schubmann
Counsel
Hannover
daniel.schubmann@luther-lawfirm.com
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Tatjana Giutronich, LL.M. (UNSW)

Tatjana Giutronich, LL.M. (UNSW)
Senior Associate
Hannover
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