29.06.2022

Änderungen für das Online-Plattform-Geschäft durch das neue Vertriebskartellrecht

Hintergrund

Online-Plattformen und ihre B2B-Kunden müssen aufgrund der neuen Vertikal-Gruppenfreistellungsverordnung („Vertikal-GVO“) und der begleitenden neuen Leitlinien zu vertikalen Beschränkungen („Vertikal-Leitlinien“), die beide am 10. Mai 2022 von der Europäischen Kommission verabschiedet wurden, bis zum 31. Mai 2023 ihr Geschäftsmodell oder ihre vertraglichen Grundlagen prüfen und ggf. anpassen, da sie sonst gegen das Kartellverbot (Art. 101 AEUV) verstoßen können. Folgen eines Verstoßes sind die Nichtigkeit von Verträgen, das Risiko von Geldbußen durch die Kartellbehörden und das Risiko von Zivilklagen. Daher wird jedem Unternehmen, das eine Online-Plattform betreibt oder das mit einer Online-Plattform Verträge schließt, dringend empfohlen, so bald wie möglich die Vereinbarungen zwischen der Plattform und ihren B2B-Kunden über das Anbieten oder Verkaufen von Waren und Dienstleistungen („Produkten“) über die Plattform, auf ihre Vereinbarkeit mit den neuen Vorschriften zu prüfen.

Die neuen Vorschriften enthalten wesentliche Änderungen für Online-Plattformen, oder rechtlich ausgedrückt Online-Vermittlungsdienste, Art. 1 Absatz 1 e) Vertikal-GVO („OIS“ nach der englischen Fassung online intermediation services). Darunter fallen Online-Plattformen wie z.B. E-Commerce-Marktplätze, App-Stores und Preisvergleichs-Tools, siehe Rn. 64 Vertikal-Leitlinien. Der Vertrieb von Produkten über eine Online-Plattform kann verschiedene Formen annehmen: Der Plattformbetreiber kann z.B. als Händler für das Produkt agieren und das Produkt in eigenem Namen und auf eigenes Risiko zu einem Preis verkaufen, den er nach eigenem Ermessen festlegt (1.). Oder der Plattformbetreiber tritt als Vermittler für den Produktanbieter auf, verkauft das Produkt im Namen des Produktanbieters und erhält für vermittelte Transaktionen eine Provision (2.). Oder der Plattformbetreiber ist „hybrid“ tätig, vermittelt also auf seiner Plattform Produkte anderer und verkauft zugleich als Händler konkurrierende Produkte (3.). Bei Marktanteilen über 30 % gilt die neue Vertikal-GVO nicht (4.). Aus den neuen Regeln für Online-Plattformen ergeben sich Prüfungserfordernisse für Betreiber dieser Plattformen, aber auch für Unternehmen, die solche Plattformen als Teil ihrer Absatzstrategie nutzen (5.). Wir beschränken uns in diesem Beitrag auf das Thema der Online-Plattformen; auf weiterführende Beiträge, wie z.B. der duale Vertrieb und der ausschließliche Vertrieb („Alleinvertrieb“) durch die neue Vertikal-GVO betroffen sind, geben wir abschließend weiterführende Hinweise (6.).

1. Auswirkungen, wenn die Plattform als Eigenhändler agiert

Eine Plattform, mit der ihr Betreiber Produkte im Eigenhandel absetzt, wird weiterhin kartellrechtlich wie jeder andere Händler behandelt, aber nur soweit der Plattformbetreiber Eigenhandel (online oder offline) betreibt. Für solche Plattformen bringen die neue Vertikal-GVO und die Vertikal-Leitlinien keine grundlegenden Änderungen. Das heißt: Der Plattformbetreiber (in dieser Konstellation: Händler) darf Preise, Gebiete und Kundenkreise nach seinen eigenen Vorstellungen festlegen. Seine Vereinbarungen mit Lieferanten über die von ihm beim Weiterverkauf über die Plattform anzuwendenden Preise sind wie bislang ebenso nur unter Einschränkungen freigestellt wie Gebiets- oder Kundenkreisbeschränkungen; so sind vor allem die Kernbeschränkungen des Art. 4 Vertikal-GVO zu beachten. Beschränkungen zu Lasten des Produktanbieters (in dieser Konstellation: des Lieferanten des Händlers) sind – auch dies wie bislang – bis zu einem Marktanteil von 30 % gruppenfreigestellt (es sei denn, der Produktanbieter ist ein Teilelieferant i.S.d. – Art. 4 f) – auch insofern keine Änderung der Rechtslage).

2. Auswirkungen, wenn eine Plattform mit weniger als 30 % Marktanteil für das betreffende Produkt und konkurrierende Produkte ausschließlich als Vermittler agiert

In dieser Konstellation sind Preis-, Gebiets- und Kundenkreisvorgaben durch Produktanbieter weiterhin vom Kartellverbot freigestellt. Umgekehrt gilt: Wollen Plattformbetreiber, die lediglich Vermittler sind, die Preisautonomie von Produktanbietern beschränken oder Gebiete festlegen, in die Produktanbieter über die Plattform verkaufen dürfen, stellt dies die neue Vertikal-GVO ausdrücklich nicht vom Kartellverbot frei, sondern qualifiziert dies als Kernbeschränkungen. Dies liegt daran, dass die Vertikal-GVO in dieser (und nur dieser!) Konstellation die Vermittlungsleistung zum „Vertragsprodukt“ und die Plattform zum Anbieter erklärt, Art. 1 Abs. 1 d) Vertikal-GVO. Folglich ist der Produktanbieter Abnehmer der Vermittlungsleistung. Kernbeschränkungen i.S.d. Art. 4 Vertikal-GVO setzen die Beschränkung eines Abnehmers voraus. Da der Produktanbieter in dieser Konstellation als Abnehmer definiert wird, führen alle Kernbeschränkungen, die der Plattformbetreiber ihm auferlegt, zu einem Entfallen der Gruppenfreistellung.

Der Plattformbetreiber darf Produktanbietern zwar untersagen, deren Produkte auf der eigenen Online-Präsenz günstiger anzubieten als auf der Plattform. Er darf aber keine Meistbegünstigungsklausel auferlegen, die bewirkt, dass auf Plattformen anderer das Produkt nicht billiger angeboten wird (Verbot der „Cross-Plattform-MFN“), Art. 5 Abs. 1 d) Vertikal-GVO. Eine solche Vereinbarung ist zwar keine Kernbeschränkung im Sinne der Vertikal-GVO; sie ist aber dessen ungeachtet nicht gruppenfreigestellt.

3. Auswirkungen auf hybride Modelle

Hybrid ist ein Unternehmen, wenn es  eine Plattform betreibt, auf dem es Produkte anderer Unternehmen vermittelt, und zugleich als Händler konkurrierende Produkte kauft oder verkauft. Vereinbarungen zwischen Betreibern hybrider Modelle und Produktanbietern, die über die Plattform eines solchen Betreibers absetzen wollen, fallen insgesamt nicht unter die Gruppenfreistellung, Art. 2 Abs.6 Vertikal-GVO, und bedürfen unabhängig von Marktanteilen der Einzelfallprüfung. Problematisch wird dabei sein, ob der Produktanbieter einer solchen Plattform noch Vorgaben in Bezug auf den Preis machen darf. Denn nach Ansicht der Kommission können solche Vereinbarungen in der Regel auch nicht mehr als sog. Handelsvertretervereinbarung betrachtet werden, sondern sollen unter das Kartellverbot fallen. Es kommt für derartige wettbewerbsbeschränkende Vereinbarungen daher künftig nur die Einzelfreistellung gem. Art. 101 Abs. 3 AEUV, § 2 GWB in Betracht. Hierbei sind für jeden Einzelfall konkret die Auswirkungen auf den Wettbewerb (einschließlich möglicher horizontaler Wirkungen) zu prüfen sowie mögliche Effizienzgewinne und die Weitergabe von Vorteilen an die Kunden.

4. Marktanteil über 30 %

Übersteigt der Marktanteil 30 %, sind sämtliche Vereinbarungen zwischen dem Betreiber einer Plattform und dem Produktanbieter, der sein Produkt über die Plattform absetzen möchte, nicht gruppenfreigestellt. Daher sind – ebenso wie bei den hybriden Plattformen – in solchen Konstellationen die Voraussetzungen der Einzelfreistellung zu prüfen.  

5. Folgen

Aus den neuen Vertikal-Leitlinien geht zwar hervor, dass die Kommission höchstwahrscheinlich nicht auf die Durchsetzung der neuen Regeln drängen wird, wenn die vertikale Vereinbarung keine Kernbeschränkungen enthält oder die Plattform keine erhebliche Marktmacht besitzt. Ein Verstoß gegen das Kartellrecht kann jedoch viel mehr Folgen haben als „nur“ eine Untersuchung durch die Europäische Kommission. Insbesondere werden weder der Plattformbetreiber noch dessen Kunden wollen, dass ihr Geschäft auf Verträgen beruht, die rechtlich nicht wirksam sind, zumal die Gerichte, die der EU und der Mitgliedstaaten, keineswegs an die Vertikal-Leitlinien gebunden sind. Für die Gerichte ist es völlig unerheblich, ob ein Kartellrechtsverstoß für die Europäische Kommission eine Durchsetzungspriorität hat oder nicht. Darüber hinaus sind die nationalen Wettbewerbsbehörden zwar an die Vertikal-GVO, nicht aber an die Leitlinien gebunden und müssen selbstverständlich nicht dieselben Durchsetzungsprioritäten verfolgen wie die Europäische Kommission.

Daher müssen insbesondere Betreiber von hybriden Plattformen und deren Geschäftspartner vor dem 31. Mai 2023 ihre Verträge (und gegebenenfalls ihr Geschäftsmodell) überprüfen und gegebenenfalls anpassen. Unternehmen, die Online-Vermittlungsdienste für den Absatz ihrer Produkte in Anspruch nehmen, müssen zumindest prüfen, ob die Plattform konkurrierende Produkte als Eigenhändler verkauft, um sich zu vergewissern, ob die Verträge von der Gruppenfreistellungsverordnung profitieren.

6. Dualer Vertrieb und ausschließlicher Vertrieb

Zu weiteren Aspekten des neuen Vertriebskartellrechts siehe:

- “Dual Distribution and Information Exchange” (Pirola Newsletter)

- “Exclusive Distribution Agreements” (Fidal)

Autor/in
Dr. Helmut Janssen, LL.M. (King's College London)

Dr. Helmut Janssen, LL.M. (King's College London)
Partner
Brüssel, Düsseldorf
helmut.janssen@luther-lawfirm.com
+32 2 627 7763 / +49 211 5660 18763 / +49 1520 16 18763

Anne Caroline Wegner, LL.M. (European University Institute)

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Martin Lawall, LL.M. (University of Glasgow)

Martin Lawall, LL.M. (University of Glasgow)
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