21.12.2021

Kartellrecht im Vertrieb – Wo stehen wir bei der Reform der Gruppenfreistellungsverordnung?

Hintergrund

Ende 2018 hat die EU Kommission den Prozess zur Evaluierung der – die Vertriebsverträge prägenden – VO 330/2010 (Vertikal-GVO), die Ende Mai 2022 ausläuft, eingeleitet. Nach Durchführung verschiedener Konsultationsrunden hat die EU Kommission im Juli 2021 den Entwurf für den neuen Verordnungstext (VGVO-E) nebst Leitlinien (VLL-E) zur Konsultation gestellt. Mehr als 150 interessierte Unternehmen, Verbände und Einzelpersonen (Stakeholder) und 6 nationale Wettbewerbsbehörden haben teilweise umfangreiche Stellungnahmen eingereicht. Eine der Verfasserinnen hat sich als Co-Autorin und Koordinatorin an der Stellungnahme der Studienvereinigung Kartellrecht im Rahmen der Konsultation beteiligt. Wenngleich es ausweislich des Entwurfs für den neuen Verordnungstext bei der bisherigen Systematik bleiben soll, hat die EU-Kommission einige weitreichende Änderungen vorgeschlagen. Die vor Kurzem von der EU Kommission veröffentlichte Zusammenfassung der Stellungnahmen zeigt, dass die Änderungsvorschläge alles andere als unkontrovers sind. Genug Anlass, einen Blick in die Glaskugel zu werfen, auch wenn die EU Kommission die Zusammenfassung selbst bisher nicht kommentiert hat. Was bedeuten die Änderungsvorschläge für Ihr Unternehmen und lässt sich schon abschätzen, ob es bei diesen bleiben wird?

I. Dualer Vertrieb – Personeller Anwendungsbereich der Ausnahme

Konkurrieren der Lieferant und sein Abnehmer (z.B. weil ein Hersteller auch im Direktvertrieb tätig ist), so ist eine vertikale Vereinbarung gem. Art. 2 Abs. 4 VGVO-E nur im Ausnahmefall freistellungsfähig – bisher war dies der Fall, wenn der Lieferant Hersteller ist und mit dem Abnehmer nur im Groß- oder Einzelhandel konkurriert. An dieser Stelle soll der Anwendungsbereich zukünftig erweitert werden, so dass auch Importeure von der Freistellung profitieren, wenn sie mit ihren Abnehmern auf der Einzelhandelsstufe konkurrieren. Diese Änderung scheint von den Stakeholdern weitgehend befürwortet worden zu sein. Zu Recht wurden aber vielfach Bedenken geäußert, dass gleichzeitig nun nicht mehr gruppenfreigestellt sein soll/wird, wenn der Hersteller mit seinem Importeur/Großhändler auf der Abnehmerebene (=Importeurs-/GH-Stufe) konkurriert. Hierhinter haben einige der Stakeholder ein Fragezeichen gesetzt und die Kommission um Klarstellung gebeten, dass dies (hoffentlich) eine Fehlinterpretation sei.

II. Dualer Vertrieb – zusätzliche Marktanteilsschwelle auf Einzelhandelsstufe

Hinzu soll in Art. 2 Abs. 5 VGVO-E eine neue Marktanteilsschwelle auf der Einzelhandelsstufe kommen. Bei gemeinsamen Marktanteilen bis zu 10% ist der Vertrag insgesamt gruppenfreigestellt, bei Anteilen zwischen 10-30% gilt die Freistellung bis auf den Informationsaustausch, auf den die Horizontalleitlinien (HLL) Anwendung finden sollen, ab 30% ist die Gruppenfreistellung ausgeschlossen. Gem. Art. 2 Abs. 6 VGVO-E werden bezweckte Wettbewerbsbeschränkungen grundsätzlich nicht freigestellt (was im Ergebnis eher klarstellender Natur sein dürfte). Hierzu haben sich zwar nicht alle, aber alle Arten von Stakeholdern kritisch geäußert. Insbesondere sei die Schwelle zu niedrig und berücksichtige der Verweis auf die HLL betreffend den Informationsaustausch (jedenfalls in ihrer derzeitigen Fassung) nicht die Notwendigkeit, gewisse Informationen im Vertriebsverhältnis zu teilen, die in einem rein horizontalen Wettbewerbsverhältnis eben (zur Recht) sensitiv seien. Es scheint noch nicht völlig ausgeschlossen, dass die zweite Marktanteilsschwelle u.U. höher angesetzt wird (weniger wahrscheinlich, dass sie entfällt) und dass – gleich ob in den VLL oder HLL – beim Informationsaustausch gewissen Besonderheiten im Vertrieb Rechnung getragen werden könnte.

III. Keine Anwendung der VGVO auf hybride Online-Plattformen

In Art. 2 Abs. 7 VGVO-E werden hybride Online-Plattformen gänzlich von der Ausnahme des dualen Vertriebs ausgeschlossen – und zwar für sämtliche ihrer vertikalen Vereinbarungen für das betreffende Produkt, auch wenn es um eine vertikale Vereinbarung ohne Bezug zur Plattformtätigkeit geht. Dieser pauschale Ausschluss, ungeachtet der Größe der Plattform, wurde von einer Vielzahl von Stakeholdern (zu Recht) kritisiert. Denn dieser Ausschluss trifft auch die Vertragspartner der hybriden Plattformen, die als häufig kleine und mittlere Unternehmen nicht die Ressourcen für eine Einzelfreistellungsprüfung haben. Zudem dürfte dies größere stationäre Player davon abschrecken, ihr bisher firmeneigenes Plattformangebot für Dritte zu öffnen. Das Bundeskartellamt hat sich hingegen sogar dafür ausgesprochen, nicht nur die hybriden, sondern alle Online-Plattformen aus dem Anwendungsbereich der Gruppenfreistellung auszuschließen.

IV. Plattformen – Einordnung von Bestpreisklauseln und Definition als „Anbieter“

Die fortschreitende Verlagerung des Vertriebs in die Online-Welt war eines der wesentlichen Themen und Driver der Konsultation zur Reform der Vertikal - GVO der EU Kommission. Im Fokus stehen dabei verstärkt die digitalen Plattformen als „Gatekeeper“ und u.U. „unvermeidbare“ Partner für kleine und mittlere Unternehmen im Warenabsatz. Legendär sind die juristischen „Schlachten“ um die Bestpreisklauseln, die im Anwendungsbereich der bisherigen Vertikal-GVO keine Kernbeschränkung darstellten, weil die „in der Preissetzungsfreiheit beschränkte Partei“ nicht der Abnehmer des Produkts (die Plattform), sondern der Produktanbieter (Lieferant) war. Für Online-Plattformen gilt zukünftig, dass weite Bestpreisklauseln (die sämtliche Vertriebskanäle betreffen) sogenannte graue Klauseln gem. Art. 5 Abs. 3 VGVO-E darstellen. Sie sind nicht gruppenfreigestellt, hindern aber die Gruppenfreistellung der Vereinbarung als solche nicht. Enge Bestpreisklauseln (die nur das eigene Angebot des Produktlieferanten betreffen) sind hingegen zukünftig weiter gruppenfreistellungsfähig. Das hierzu bei der EU Kommission platzierte Feedback der Stakeholder war offenbar gemischt. Es dürfte daher eher zu erwarten sein, dass die EU Kommission insoweit bei ihrem Entwurf bleibt.

In seinen Auswirkungen noch unklar und von den Stakeholdern ganz überwiegend eher kritisch rezipiert wurde die Definition von Online-Plattformen als „Anbieter“. Wenn sich dies nicht nur auf die Vermittlungsdienstleistung bezieht, sondern (wie wohl beabsichtigt) auch auf das Vertragsprodukt (= das vermittelte Produkt) beziehen soll, stellt das die bisherige Idee der Vertriebskette „auf den Kopf“. Denn bisher war die Plattform entweder Handelsvertreter oder aber wurde gem. Art. 1 lit. h VGVO als Abnehmer behandelt. Dies soll nach dem VGVO-E fortan nicht mehr gelten. Das bedeutet wohl (?), dass die Plattform dem Produktanbieter fortan wegen des Verbots der Preisbindung des Abnehmers (per definitionem dann der Produktanbieter) weder Fest- noch Mindestpreise vorgeben kann.  Bestpreisklauseln dürften allerdings wegen der Reglung in Art. 5 Abs. 3 VGVO-E aber dennoch nicht unter die Kernbeschränkung fallen. Die neue Einordnung wurde von den meisten Stakeholdern als nicht zielführend empfunden, weil dies nicht den wirtschaftlichen Realitäten entspreche. Es bleibt abzuwarten, wie die EU Kommission mit diesem Feedback umgeht – zumal die nationalen Kartellbehörden ebenfalls gemischter Ansicht gewesen zu sein scheinen.

V. Kunden und Gebietsbeschränkungen – neue Struktur der Vorschrift

In diesem Bereich hat sich auf Ebene der Vertikal-GVO selbst in der Sache recht wenig geändert. Die Bestimmung wurde allerdings komplett umstrukturiert, so dass es nun einen eigenen Abschnitt für Kernbeschränkungen in Alleinvertriebssystemen, einen für Selektivvertriebssysteme und einen für Vertriebssysteme, die weder das eine noch das andere sind, enthalten. Es wurde die Möglichkeit eingeführt, ein Vertriebsgebiet einer begrenzten Anzahl (aber mehr als einem) Alleinvertriebshändler zuzuweisen. Darüber hinaus wurde für den seltenen Fall des Alleinvertriebs neben dem selektiven Vertrieb (in jeweils anderen Gebieten) die Kernbeschränkungen so modifiziert, dass ein verbesserter (wenn auch nach wie vor nicht lückenloser) Schutz des selektiven Vertriebs vor Verkäufen eines Alleinvertriebshändlers aus einem anderen Gebiet ermöglicht und umgekehrt. Die Kumulation von Allein- und Selektivvertrieb in ein und demselben Gebiet ist weiterhin nicht gruppenfreistellungsfähig. Diese Änderungen scheinen überwiegend positiv aufgenommen worden zu sein. Kritische Stimmen betrafen vor allem die Möglichkeit einer Mehrheit von Alleinvertriebshändlern in ein und demselben Gebiet einsetzen zu können.

VI. Online-Vertriebsbeschränkungen: Doppelpreise, Äquivalenzkriterium, Plattformverbote

Auf Ebene der VLL-E ist u.a. neu, dass Doppelpreise (Dual Pricing) im Online-Vertrieb zukünftig nicht mehr per se Kernbeschränkungen (in Form von Kundenkreisbeschränkungen) darstellen sollen. Dies gilt aber nur dann, wenn die unterschiedliche Preisgestaltung darauf abzielt, Investitionen für diesen Vertriebskanal anzuregen und angemessen zu vergüten und nicht bezweckt oder bewirkt, den Internetvertrieb zu behindern. (Ansonsten bleibt Dual Pricing aber eine Kernbeschränkung (Rn. 189 lit. g) VLL-E.)) Diese Änderung scheint überwiegend eher positiv bewertet worden zu sein. Viele Stakeholder haben aber um Klärung gebeten, ob eine solche Differenzierung eine detaillierte Kostenberechnung über die unterschiedlichen Kosten von Investitionen erfordere.  

Ähnliches gilt für eine Lockerung des strengen Äquivalenzprinzips für den Online- und den Offlinekanal. Die neuen Leitlinien erkennen an, dass eine strikte Äquivalenz bei den Auswahlkriterien für die Aufnahme in das System, wie auch bei der Rabatt-/ Bonusgestaltung, aufgrund der Unterschiede der Vertriebskanäle, nicht immer möglich bzw. sachgerecht ist. Sachliche Differenzierungen zwischen den Kanälen sollen daher zukünftig erlaubt sein, solange sie legitime Zwecke verfolgen und nicht darauf abzielen, Online-Verkäufe zu behindern.

Wie nicht anders zu erwarten, gelten Drittplattformverbote entsprechend dem EUGH - Urteil vom 6. Dezember 2017 (C-230/1) in Sachen Coty zukünftig keine Kernbeschränkung. Des Weiteren stellen die VLL- E klar, dass einzelne Suchmaschinen/ Marktplätze/ Vertriebskanäle unter Qualitätskriterien ausgeschlossen werden können. Unzulässig soll aber eine gänzliche Blockade bestimmter Werbekanäle sein. Insbesondere stelle ein allgemeines Verbot von Preissuchmaschinen/ Suchmaschinenwerbung wohl eine Behinderung des Internetvertriebs und damit eine Kundenkreisbeschränkung dar.

VII. Preisbindungsverbot – v.a. Mindestwerbepreisrichtlinien und Fullfillmentcontracts

Zum Preisbindungsverbot finden sich interessante Ausführungen in den Leitlinien dazu, ob zukünftig verbindliche Mindestwerbepreisrichtlinien u.U. zulässig sein könnten. Die Stakeholder hielten diesen Passus für klärungsbedürftig und stuften ihn teilweise auch als kritikwürdig ein. Hier scheint es nahezuliegen, dass der betreffende Passus nicht unverändert in die endgültige Regelung übernommen werden wird.

Wichtig und besonders hervorzuheben sind die hilfreichen Ausführungen zu den sogenannten Fullfillmentcontracts („Erfüllungsverträge“). Hierbei handelt es sich um eine Vertragskonstruktion, bei der ein Endkunde einen Rahmenvertrag mit dem Hersteller abschließt, die Erfüllung aber ggf. durch lokal näher gelegene unabhängige Händler (die häufig überwiegend Logistikfunktionen erbringen) erfolgt. Derzeit stellt sich das Problem der Preisbindung – weil die vom Hersteller verhandelten Preise häufig schon so niedrig sind, dass sie de facto vom erfüllenden Händler kaum noch unterboten werden (können) und sich daher möglicherweise wie Festpreise auswirken. Nach den VLL-E ist die Preisbindung dann unproblematisch, wenn der Endkunde auf das Recht verzichtet, sich den erfüllenden Händler auszusuchen. Während die nationalen Kartellbehörden der Ansicht waren, dass die Erfüllungsverträge weiterhin als unzulässige Preisbindung behandelt werden sollten, standen die Stakeholder dem Vorschlag positiv gegenüber und waren der zutreffenden Ansicht, dass die unproblematischen Erfüllungsverträge noch zu eng abgegrenzt seien.

VIII. Ausblick

Es bleibt also spannend, wie die EU Kommission mit den vielen Argumenten umgehen wird, die sie im Rahmen der Konsultation erhalten hat und die sie bewerten muss. Wir halten Sie diesbezüglich auf dem Laufenden! Für unseren Blick in die Glaskugel gilt das Selbstverständliche: Prognosen sind bekanntlich schwierig, vor allem, wenn sie die Zukunft betreffen…

Weitere Details, einschließlich graphischer Darstellungen, finden sich in den  Slides zur Reform der Vertikal-GVO (Vortrag im Rahmen der Arbeitstagung der Studienvereinigung Kartellrecht vom 10. Dezember 2021). Sprechen Sie uns gerne an, wenn Sie weitere Fragen haben!

Autor/in
Anne Caroline Wegner, LL.M. (European University Institute)

Anne Caroline Wegner, LL.M. (European University Institute)
Partnerin
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anne.wegner@luther-lawfirm.com
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Samira Altdorf, LL.M. (Brussels School of Competition)

Samira Altdorf, LL.M. (Brussels School of Competition)
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