21.10.2020

Kartellbußgeldverfahren: EuG hebt Durchsuchungsanordnung der EU-Kommission teilweise auf

Hintergrund

Am 5. Oktober 2020 hat das Europäische Gericht (EuG) Untersuchungsanordnungen der Europäischen Kommission (EU-Kommission) aus dem Jahr 2017 gegen drei französische Supermarktunternehmen teilweise für rechtswidrig erklärt.

Die EU-Kommission hegte den Verdacht, die Unternehmen Casino, Les Mousquetaires, Intermarché sowie Intermarché Casino Achats, eine gemeinsame Tochter von Casino und Intermarché, hätten gegen das Kartellverbot des Art. 101 Abs. 1 AEUV verstoßen. Die Unternehmen sollen sich hiernach seit dem Jahr 2015 über diverse wettbewerblich sensible Informationen, unter anderem Preise, Rabatte sowie zukünftige Geschäftsstrategien und die Unternehmensentwicklung, ausgetauscht haben. Die EU-Kommission ließ im Rahmen ihrer Untersuchung auf Basis ihrer Durchsuchungsanordnung („Nachprüfungsentscheidung“) die Unternehmenssitze der genannten Unternehmen durchsuchen und Kopien von u.a. Laptops, Mobiltelefonen und weiteren Speichermedien anfertigen.

Gegen diese Untersuchungsanordnungen wandten sich die Unternehmen mit Nichtigkeitsklagen an das EuG. Die Unternehmen machten dabei insbesondere geltend, dass (i) die EU-Kommission die Nachprüfungsentscheidung im Hinblick auf die Untersuchungsgegenstände nicht ausreichend begründet habe, (ii) die Durchsuchung gegen die Unverletzlichkeit der Wohnung verstoßen habe, sowie (iii) durch die Mitnahme und Anfertigung von Kopien gegen das Recht auf Privatsphäre und Datenschutz verstoßen habe.

Für Unternehmen ist die Entscheidung gegen Les Mousquetaires (Az. T-255/17) von besonderer Bedeutung, da sich das EuG in der rechtlichen Würdigung dazu verhält, wie sich ein Unternehmen während einer Durchsuchung verhalten muss, um sein Rechtsschutzbedürfnis für eine spätere Anfechtungsklage zu wahren.

EuG, Entscheidungen vom 5. Oktober 2020, Sache T-249/17, Sache T-254/17 und Sache T-255/17.

EU-Kommission kam ihrer Begründungspflicht (teilweise) nicht nach

Das EuG hat nun den klagenden Unternehmen mit Blick auf die Unverletzlichkeit der Wohnung/Geschäftsräume jedenfalls teilweise stattgegeben, weil in Bezug auf den vorgeworfenen Informationsaustausch teilweise keine ausreichenden Verdachtsmomente belegt waren. Dabei sind an das Erfordernis der Begründung einer Durchsuchungsanordnung nicht allzu hohe Anforderungen gesetzt. Eine solche Entscheidung setzt lediglich den Verdacht (also einen bereits in gewisser Weise unpräzisen Sachverhalt) eines Verstoße voraus. Entscheidend ist, dass keine sogenannte „fishing expedition“ erfolgt, der Gegenstand und das Ziel der Untersuchung also nicht zu weit gefasst werden und diese nicht nur der Ausforschung des Sachverhalts dienen. Auch in Bezug auf die Qualität der den Verdachtsmoment begründenden Tatsachen werden keine großen Hürden aufgestellt. Insoweit ist etwa nicht erforderlich, dass die vorliegenden Indizien bereits die Qualität eines Beweismittels erreichen (vgl. etwa EuG, Entscheidung vom 20. Juni 2018, Sache T‑325/16 – České dráhy/Kommission). Das Indiz bzw. die Quelle, auf die sich die EU-Kommission beruft, muss lediglich hinreichend ernsthaft sein bzw. eine gewisse Glaubwürdigkeit besitzen.

Diese Anforderungen erfüllten zwar die von der EU-Kommission vorgelegten Indizien zur Begründung des Verdachts eines Austausches über Rabatte und Preisinformationen, nicht hingegen in Bezug auf den Verdacht des Informationsaustauschs über zukünftige Geschäftsstrategien und Unternehmensentwicklungen. Die EU-Kommission hatte hier bereits die Anwesenheit des Geschäftsführers von Casino an einer Tagung mit dem Wettbewerber Intermarché als hinreichenden Verdachtsmoment für einen solchen Austausch gewertet. Nach Ansicht des EuGs reichte dies im konkreten Fall aber aus mehreren Gründen nicht als Indiz für den vorgeworfenen Kartellrechtsverstoß aus. Zum einen habe der Geschäftsführer nicht in seiner Funktion für Casino, sondern als Co-Geschäftsführer eines gemeinsamen Tochterunternehmens an der Tagung teilgenommen. Zum anderen seien die Informationen im Rahmen dieser Tagung in einer für die Öffentlichkeit gedachten Gesprächsrunde – es waren diverse Journalisten von Fachzeitschriften anwesend – ausgetauscht worden und nur allgemeiner Natur gewesen.

Der Antrag, die Mitnahme der Dokumente, die nach Ansicht der Klägerinnen die Privatsphäre ihrer Angestellten verletzte, für nichtig zu erklären, sei hingegen unzulässig, weil es sich hierbei nicht um einen tauglichen Klagegenstand handle. Dies hätte nach ständiger Rechtsprechung der europäischen Gerichte eine Handlung mit verbindlicher Rechtswirkung, also eine Handlung, die geeignet ist, die Interessen des Klägers dadurch zu beeinträchtigen, dass sie seine Rechtsstellung in eindeutiger Weise verändern, vorausgesetzt. Anders wäre dies also gewesen, wenn noch während der Durchsuchung die Unzulässigkeit der Mitnahme gerügt worden wäre, die EU-Kommission sich hierüber hinweggesetzt und damit das Schutzgesuch implizit abgelehnt hätte. Gleiches gelte für den Antrag auf Herausgabe der betreffenden Dokumente, über den die EU-Kommission noch nicht entschieden habe. Dieser sei zudem wohl zu unbestimmt für eine Entscheidung.

Einordnung

Die Entscheidungen sind ein Beispiel dafür, dass ein Unternehmen einer Durchsuchungsanordnung der EU-Kommission nicht schutzlos gegenübersteht. Zwar verfügt die EU-Kommission wie gehabt über einen weiten Beurteilungsspielraum bei der Bewertung von Indizien und dem Erlass von Durchsuchungsanordnungen. Es zeigt sich, dass die europäischen Gerichte genau hinsehen und verlangen, dass eine Durchsuchungsanordnung nicht ins Blaue hinein ohne hinreichend belegten Anfangsverdacht erfolgt.

Die Entscheidungen reihen sich ein, in eine Reihe von Teilaufhebungen wegen zu weit gefasster Untersuchungsgegenstände. So hatte das EuG bereits in den Fällen Stromkabel (Entscheidung vom 14. November 2012, Sache T‑135/09, Rn. 72 ff., 91 – Nexans Frankreich und Nexans/Kommission) und Schienenpersonenverkehr (Entscheidung vom 20. Juni 2018, Sache T‑325/16, Rn. 73 ff. – České dráhy/Kommission) befunden, dass die Indizien nur Ausschnitte des Untersuchungsgegenstandes abdeckten. Auch der EuGH erklärte bereits zwei Nachprüfungsbeschlüsse der EU-Kommission für insgesamt nichtig (vgl. EuGH, 18. Juni 2015, Az. C‑583/13, Rn. 66 – Deutsche Bahn/Kommission), weil diese zumindest teilweise auf rechtwidrig erlangten Informationen beruhten.

Vor dem Hintergrund des starken Rückgangs der Kronzeugenanträge dürften diesen Entscheidungen in der Praxis eine wichtige Bedeutung zukommen. Während nach der Einführung der Kronzeugenregelung umfangreiche Beweise für einen Anfangsverdacht der EU-Kommission im Rahmen von Kronzeugenanträgen in der Regel „frei Haus“ geliefert wurden, wird die Kommission zukünftig vermehrt ohne solche Unterstützung ermitteln müssen und in diesem Rahmen sorgfältig abzuwägen haben, ob die ihr vorliegenden Indizien hinreichend ernsthaft sind.

Wenn es bei zukünftigen Durchsuchungen darum geht, sich gegen die Mitnahme von Unterlagen oder Daten, die der Privatsphäre der Mitarbeiter zuzuordnen sind, zu wehren, so muss dies – ebenso wie schon bisher die Verletzung des Anwaltsprivilegs – schon bei der Durchsuchung geltend gemacht werden – und zwar nicht pauschal, sondern in Bezug auf konkrete Daten oder Unterlagen. Anderenfalls unterliegt deren Mitnahme nicht der Kontrolle durch das EuG.

Autor/in
Anne Caroline Wegner, LL.M. (European University Institute)

Anne Caroline Wegner, LL.M. (European University Institute)
Partnerin
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