09.11.2021

„Die Innenstadt von Morgen – ein Spiegelbild des mittelalterlichen Marktplatzes“

Luther Partnerin Sabrina Desens im Interview mit Burkhard Jung, Oberbürgermeister der Stadt Leipzig und Präsident des Deutschen Städtetages. Über die Zukunft der Innenstädte, neue Mobilitätskonzepte und die Vielfalt von Akteuren im Kontext der Zukunft von Städten und Gemeinden.

Burkard Jung im Interview

Luther: Der Städtetag 2021 in Erfurt steht unter dem Motto „Was Leben ausmacht. Die Städte in Deutschland“. Seit vielen Jahren sehen wir, dass sich die Innenstädte stark verändern: Online und „Letzte-Meile-Logistik“ erhöhen den Druck auf den Handel, die Folge sind zunehmende Leerstände. Was glauben Sie, wo geht die Reise hin?

Jung: Das ist wirklich sehr komplex. Jahrzehntelang haben wir in unseren Innenstädten auf Handel gesetzt. Nun gerät der Handel stark unter Druck – natürlich durch das Online-Geschäft, aber auch durch die Entwicklung der gewerblichen Mieten.

Ich wage jetzt mal eine Vision: Die Innenstädte werden weiterhin ein attraktiver Mittelpunkt in den Städten bleiben. Und dennoch wird sich die Innenstadt wandeln müssen. Und zwar in Richtung – das sage ich vielleicht etwas romantisiert – der mittelalterlichen Marktplätze: Zu Orten, wo man sich begegnet, wo Kommunikation stattfindet, wo man etwas erleben kann.

Das heißt, der Erlebnischarakter wird definitiv zunehmen. Wenn man sich als Innenstadt abheben möchte, dann muss man sie bespielen. Dabei geht es um öffentliche Nutzungen, um soziale Infrastruktur und Bildungsinfrastruktur von der Musikschule über die Volkshochschulen bis zu Beratungsangeboten vor Ort. – Wohnen, Leben, Arbeiten im Einvernehmen sozusagen.

Luther: Das heißt, die klassische Einkaufsstraße, so wie es sie heute gibt, gibt es künftig nicht mehr?

Jung: Na klar wird es noch die Einkaufsstraße geben. Wir werden die Hohe Straße in Köln haben und auch die Grimmaische Straße in Leipzig. Aber sie werden sich wandeln müssen. Wenn sie alle gleich aussehen und alle die gleichen Ketten von den „üblichen Verdächtigen“ haben, kann das nicht gut gehen. Man geht in der Regel nicht mehr in die Innenstadt, um Besorgungen des täglichen Lebens zu machen, um z. B. Deo zu kaufen.

Luther: Wie könnte das ganz konkret aussehen? Kann man das als Stadt ganz bewusst steuern?

Jung: Meine These ist: Wir haben viele junge Leute verloren, gerade junge Familien mit Kindern und die 20 bis 40-Jährigen, die nicht mehr die Innenstadt besuchen, um einzukaufen. Für diese Zielgruppen müssen Angebote geschaffen werden. Aber diese Angebote müssen attraktiv sein, damit Menschen angezogen werden. Und das haben wir in Leipzig richtig gemacht. Du musst nicht in die Zeitung schauen, du musst dich nicht informieren, du weißt: Wenn du am Samstag in Leipzig in die Stadt gehst, gibt es „die Stadt“ – da ist gleich was los, da passiert etwas. Wir haben Wochenmärkte, man kann auf dem Markt einen Wein trinken oder es gibt Straßenmusik. Man hat regionale, unverwechselbare Produkte, das ist ein Punkt.

Luther: Vielleicht hat sich das durch Corona und vermehrtes Homeoffice auch nochmal verändert?

Jung:   Genau, das hat auf jeden Fall einen Schub gegeben. Das sieht man zum Beispiel an den regionalen Biomärkten. In Westdeutschland hat sich die Marktsituation in den kleineren Städten stark entwickelt, das ist auch eine Frage der Kaufkraft, das ist eine Frage des Bewusstseins.

Kurzum, die Innenstädte müssen individueller werden, es wird mehr Mischformen geben müssen zwischen Beratungs- und Handelsangeboten sowie gastronomischen Angeboten – und die Ladenmieten müssen runter. Wenn die Vermieter nicht verstehen, dass bei den Innenstädten die Miete astronomisch geworden ist, wird es schiefgehen.

Luther: Heißt das auch, dass es nicht mehr die gleichen Akteure sind, die die Innenstädte beleben? Also nicht mehr nur die Händler, die große Einzelhandelseinheiten bespielen, sondern auch andere Akteure, die in den Innenstädten aktiv sein müssen. Wie könnte das Ihrer Meinung nach aussehen?

In Leipzig wurde beispielsweise eine Citygemeinschaft als ein Verein der Händler gegründet. Und bei unserer Marketinggesellschaft wurde ein „City-Manager“ eingestellt, um die Verbindung zwischen Wirtschaft und öffentlicher Verwaltung, zwischen den Handelsakteuren und anderen Akteuren zu verbessern. Es soll über das City-Management versucht werden, ein Miteinander der Akteure zu schaffen und so unterschiedliche Konzepte auszuprobieren.

Insbesondere geht es um die Bespielung, den möglichen Zwischenerwerb und auch das Weiterveräußern von Immobilien – auch von großen Immobilien, die früher Handelshäuser waren. Solche Aktivitäten müssen koordiniert, geplant und entwickelt werden zum Beispiel auch über einen „Bundesfonds“, auf den Städte zugreifen können.

Luther: Besondere Herausforderung sind sicherlich auch mittlere und kleinere Gemeinden. Im Osten sieht man das sehr gut: Sie sind wunderbar restauriert, aber häufig sehr, sehr leer. Glauben Sie, dass diese wiederbelebbar sind? Oder ist es vielleicht auch Aufgabe der größeren Städte mit den Umlandgemeinden zusammenzuarbeiten?

Jung: Es ist wirklich eine Herausforderung, den Ausgleich zu finden zwischen Stadt, Land, Mittelzentren, Oberzentren, ländlichen Strukturen und dörflichen Strukturen. Wenn die Menschen weg sind, dann wird es unglaublich schwer das wiederzubeleben. Insbesondere die kleinen Städte haben junge Menschen verloren. Es ist auch eine strukturelle Frage. Am Ende ist es aber auch der Verbraucher, der entscheidet.

Ich denke, dass es auch für Gemeinden eine Aufgabe ist, die man gemeinsam mit den unterschiedlichen Akteuren angehen kann. Aber dabei sind nicht nur die Stadt, die kommunale Ebene oder das Land gefragt; auch die Sparkassen oder die Post und der kleine Einzelhandel, den man in besonderer Weise unterstützt, gehören dazu.

In Leipzig haben wir versucht, durch interkommunale Zusammenarbeit gewerbliche Entwicklungen synergetisch abzugleichen. Wir brauchen diese regionale Kooperation auch für neue Wohnformen. Denn wir werden das Wachstum nicht mehr abfedern, und wenn alles in die Stadt drängt, dann drohen wir zu ersticken.

Luther: Was ist die größte Herausforderung der interkommunalen Zusammenarbeit bzw. im Zusammenspiel zwischen den großen Städten und kleineren und mittleren Gemeinden im Umland?

Jung: Eine entscheidende Rolle spielt der öffentliche Nahverkehr. Solange wir den öffentlichen Nahverkehr in direkter Beziehung zu der Großstadt haben, funktionieren die Verbindungen sehr gut. Hervorragendes Beispiel ist zum Beispiel Delitzsch, wo die S-Bahn direkt fährt. Sie steigen ein und sind in 20 Minuten in Leipzig – das ist schneller als mit dem Auto.

Den öffentlichen Nahverkehr einzubinden, die Innenstadt autoarm bis autofrei zu gestalten und dabei zugleich Wohnen wieder möglich zu machen, ist eine entscheidende Stellschraube.

Luther: Derzeit wird der Autoverkehr in der Innenstadt ja noch zusätzlich und immer stärker erhöht durch Logistiker mit Transportfahrzeugen. Haben Sie da ein Zukunftsszenario, wie es sich entwickelt, wie das 2030 aussehen wird oder aussehen könnte?

Jung: Die Logistiker, die uns mit Waren beliefern, sind eigentlich nicht unser Verkehrsproblem. Klar parken die oft in der zweiten Reihe, klar machen sie die Warnblinkanlage an und schmeißen die Pakete raus, stehen auf dem Fahrradweg. Aber sie sind nicht die Schuldigen der gesamten Verkehrssituation, sondern der Individualverkehr ist es, woran unsere Städte ersticken. Das kann man gut an folgendem Beispiel verdeutlichen: Ich glaube, dass es ökologischer ist, den Bringdienst zu nutzen, anstatt dass jeder seine Kiste Bier selbst holt.

Zugleich wird man die großen logistischen Herausforderungen wahrscheinlich nur über Hubs lösen, wo man mit unterschiedlichen Modellen je nach Situation agiert. Wie etwa in Amsterdam, mit den Lastenbooten in den Grachten, in Barcelona sind es kleine Fahrzeuge, die genau durch die kleinen Gassen der Altstadt passen. Oder in Leipzig könnte es als Vision die Straßenbahn sein, die von einem Hub zum anderen Waren transportiert, die dort wieder mit Elektromobilität verteilt werden können. Ich glaube, in 20 bis 30 Jahren wird man viel stärker auf logistische Zentren setzen, die die Verteilung organisieren. Aber ich glaube nicht, dass die Elektromobilität die letzte Antwort beziehungsweise Lösung ist.

Luther: Wie sehen Sie das Potenzial für neue Mobilitätskonzepte wie zum Beispiel Drohnen?

Jung: Zur Zeit wird viel ausprobiert. Ich bin sehr gespannt und glaube auch daran, zum Beispiel für besonders wichtige und eilige Transporte wie Arzneimittel.

Auch Gondelverkehr wird zunehmen. Ich bin erstaunt, wie viel Kapazitäten da geschaffen werden können. Aber es sind in der Tat Spezialverkehre, kleine Inseln, die nicht allein die Lösung für die Zukunft sein können. Am Ende wird es die gesamte öffentliche Verkehrsinfrastruktur sein: S-Bahnen, U-Bahnen, Tram-Verkehr, Bus-Verkehr, Taxis und autonomer Verkehr, Shared car services, Fahrräder …

Aber ich glaube auch, dass so lange Menschen die Freiheit haben, sich in ein eigenes Fahrzeug zu setzen, sie diese Freiheit auch nutzen werden. Das ist die Ursprungsphilosophie des Autos: Du bist mobil – selbstständig fahrbereit.

Luther: Was uns zum Thema Klimawandel führt. Neben dem Verkehr zählt auch das Thema Energie dazu. Welche Chancen und Möglichkeiten sehen Sie beim Thema Klimaneutralität und welche Akteure zählen dazu?

Jung: Ohne Städte wird es keine Klimastrategie geben in Europa. Wer muss es machen? Wir müssen es machen! Denn in den Kommunen ist viel Potenzial, um den CO2-Austoss zu verringern und die Klimaziele zu erreichen. Die Städte wollen ihren Anteil in Richtung Zero Emission schultern. Aber dazu brauchen wir die Unterstützung von Bund und Ländern und der Europäischen Union.

Und wir müssen regionalisierte Lösungen finden – da kommen die Stadtwerke ins Spiel. Mit den lokalen Energieversorgern haben wir in der Tat die Chance, schneller, autarker, autonomer Strukturen zu verändern. Fernwärmenetze, wie wir sie zum Beispiel in Leipzig haben, sind hervorragende Möglichkeiten um relativ schnell auf grüne Fernwärme umzustellen und in diesem Segment CO2-neutral zu werden.

Die Umstellung auf Wasserstoff wird ein Thema werden. Das werden wir nicht alleine schaffen, aber ich glaube, dass die Stadtwerke da die Kraft mitbringen werden, vieles auf den Weg zu bringen.

Und was es noch zu lösen gilt, ist die energetische Sanierung unserer Altbaubestände, ohne in den Denkmalschutz einzugreifen und ohne die Mieten astronomisch in die Höhe zu treiben.

Luther: Und was brauchen die Städte damit das noch besser gelingt?

Jung: Wir brauchen auf jeden Fall viel größere Spielräume, selbst entscheiden zu können. Also mehr regulatorische Beinfreiheit. Das ist derzeit auf Ebene des Bundes und der Länder sehr föderalistisch organisiert.

Luther: Gibt es auch Überlegungen, Know-how zu teilen, oder durch Zusammenarbeit, Kooperationen oder Zweckverbände, Kräfte interkommunal zu bündeln?

Jung: Das schöne ist: Städte können hemmungslos voneinander abgucken. Es gibt in der Tat gute Zusammenarbeit mit den Stadtwerken, aber auch in bestimmten Projekten, bis hin zu gemeinsamen Gründungen von GmbHs, um zum Beispiel neue Kraftwerke zu entwickeln, die Teilhabe an Windparks, wo wir uns mit anderen zusammentun. Gemeinsam versuchen wir als städtische Unternehmen, die fossilfreie Energieversorgung zu organisieren.

Luther: Wie kann der Deutsche Städtetag dabei unterstützen?Klimawandel vollzieht sich ja in einem globaleren Maßstab. Gibt es da Bestrebungen?

Jung: Da gibt es sehr aktive Arbeitsgruppen, Austausch, „best practice“.  – Auch parteiübergreifend besteht eine hohe Übereinstimmung im Hinblick auf eine schnellere Umsetzung von klimapolitischen Zielen, z. B. zum Thema CO2. Ich bin begeistert, dass man sich im Präsidium des Städtetages, wo Oberbürgermeisterinnen und Oberbürgermeister von Links bis CSU sitzen, auf eine Position zur CO2-Bepreisung einigen konnte.

Zudem bin ich der Vizepräsident von „Euro Cities“, also der europäischen Städtegemeinschaft. Da kann man noch deutlicher spüren: das was wir in Deutschland miteinander entwickelt haben, ist auf europäischer Ebene unter den Großstädten absolut selbstverständlich! Das Commitment zum „Green Deal“ ist auf europäischer Ebene sehr stark.

Luther: Wenn Sie als Präsident des Städtetages abgelöst werden. Was würden Sie Ihrem Nachfolger mit auf den Weg geben wollen? Was sind die großen Themen, denen sich der Städtetag in den nächsten zwei Jahren widmen sollte?

Jung: Die großen Themen bleiben: Klima, Wohnen, Verkehr, Energie, Soziales, Diversität. Was ich mitgeben möchte ist, dass wir unbedingt die durch die Corona-Pandemie gewachsene, intensive Anhörungspraxis mit der Bundesregierung bewahren sollten.

Das hat mich sehr gefreut und war in einer schwierigen Zeit etwas Beglückendes, mit der Kanzlerin, mit dem Finanzminister, mit dem Verkehrsminister, mit dem Gesundheitsminister, mit der Bundesregierung als Städtetag in einem engen Austausch über den richtigen Weg zu sein.

Autor/in
Dr. Sabrina Desens

Dr. Sabrina Desens
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Leipzig
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