08.08.2022

Digitalisierung der grenzüberschreitenden Beweisaufnahme und Zustellungen – Die Neufassungen von EuBewVO und EuZustVO

I. Einleitung

Digitalisierungen im Verfahrensrecht sind weltweit auf dem Vormarsch. So haben es insbesondere der Ausbruch der Covid-19-Pandemie und die dadurch bedingten Distanzgebote erforderlich gemacht, Gerichtsverhandlungen weitestgehend digital abzuhalten. Auch der Unionsgesetzgeber hat durch Neufassung der Verordnung (EU) 2020/1783 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. November 2020 über die Zusammenarbeit zwischen den Gerichten der Mitgliedstaaten auf dem Gebiet der Beweisaufnahme in Zivil- oder Handelssachen (EuBewVO n.F.) sowie der Verordnung (EU) 2020/1784 über die Zustellung gerichtlicher und außergerichtlicher Schriftstücke in Zivil- oder Handelssachen in den Mitgliedstaaten (EuZustVO n.F.) einen wichtigen Schritt in Richtung Digitalisierung der grenzüberschreitenden Beweisaufnahme und Zustellung gemacht. Seit dem 1. Juli 2022 ist die EuBewVO n.F. sowie die EuZustVO n.F. in Kraft, welche auch Anpassungen der §§ 1072 ff. ZPO und §§ 183, 363 ZPO erforderlich machten. Die wichtigsten Änderungen durch Neufassung der beiden Verordnungen sollen im Folgenden überblicksartig dargestellt werden.  

II. Neue Regelungen der EuBewVO n.F. zur Beweisaufnahme

Auf dem Gebiet der Beweisaufnahme stehen auch nach der EuBewVO n.F. wie bislang zwei Wege der grenzüberschreitenden Beweisaufnahme zur Verfügung, nämlich (1) die Beweisaufnahme durch das ersuchte Gericht (Artt. 12-18 EuBewVO n.F.) (aktive Rechtshilfe) sowie (2) die unmittelbare Beweisaufnahme des Prozessgerichts im Ausland (Artt. 19-20 EuBewVO n.F.) (passive Rechtshilfe). Die EuBewVo n.F. hält damit am sogenannten Dualismus zwischen aktiver und passiver Rechtshilfe fest.

Neu eingeführt wurde allerdings die Regelung zur unmittelbaren Beweisaufnahme per Videokonferenz oder mittels anderer Fernkommunikationstechnologien in Art. 20 EuBewVO n.F. Überdies wurde durch Implementierung von Art. 21 EuBewVO n.F. erstmals die Möglichkeit einer Beweisaufnahme durch Bedienstete diplomatischer oder konsularischer Vertretungen geschaffen.

Die EuBewVO n.F. soll damit die hergebrachten Formen der grenzüberschreitenden Beweisaufnahme insbesondere für Videoübertragungstechnik öffnen und die unmittelbare Beweisaufnahme in anderen EU-Mitgliedstaaten stärken.
 

1. Grenzüberschreitende Videovernehmung

Vernehmungen mittels Videokonferenztechnik sind seit den infolge der Covid-19-Pandemie erforderlich gewordenen Mobilitätseinschränkungen und Distanzgeboten in sämtlichen Mitgliedstaaten auf dem Vormarsch. Während in Deutschland § 128a Abs. 2 ZPO Beweisaufnahmen im Wege der Bild- und Tonübertragung ermöglicht, fehlte es auf grenzüberschreitender Ebene im Hinblick auf Beweisaufnahmen mittels Videoübertragungstechniken bisher noch an einer normativen Grundlage.

Vor diesem Hintergrund wurde im Rahmen der Neufassung der EuBewVO Art. 20 EuBewVO n.F. implementiert. Für den Fall der unmittelbaren Beweisaufnahme, also der Beweisaufnahme durch das Gericht im Ausland, sieht Art. 20 Abs. 1 EuBewVO n.F. nunmehr vor, dass das Prozessgericht die Beweisaufnahme per Videokonferenz oder mittels einer anderen Fernkommunikationstechnologie durchführt, sofern das Prozessgericht über eine solche Technologie verfügt und es den Einsatz einer solchen Technologie aufgrund der besonderen Umstände des Falls für angemessen hält. Daneben besteht – wie bisher – die Möglichkeit, dass das Prozessgericht im Wege der aktiven Rechtshilfe das Rechtshilfegericht eine Beweisaufnahme im Wege der Videokonferenz (Art. 12 Abs. 4 UAbs. 1 EuBewVO n.F.) durchführen lässt. In diesem Fall besteht für das Prozessgericht bloß die Option einer Zuschaltung zur digitalen Zeugenvernehmung durch das Rechtshilfegericht.

Die neu eingeführte Möglichkeit einer Videovernehmung als unmittelbare Beweisaufnahme besticht durch die Möglichkeit einer unmittelbaren Wahrnehmung und Durchführung durch das entscheidende Gericht.

Die praktische Brauchbarkeit von Art. 20 EuBewVO n.F. wird jedoch ein Stück weit dadurch eingeschränkt, dass die freiwillige Mitwirkung der zu vernehmenden Person eine zwingende Voraussetzung der Videovernehmung ist. Während der Verordnungsentwurf der Europäischen Kommission noch vorsah, Zwangsmaßnahmen wie Ordnungsgeld oder Ordnungshaft für unmittelbare Beweisaufnahmen verfügbar zu machen, wurde dies in der finalen Verordnung nicht vorgesehen.

Hinzu kommt, dass unmittelbare Beweisaufnahmen – wie bisher – der Zustimmung der Zentralstelle bzw. der zuständigen Behörde im ersuchten Mitgliedstaat bedürfen. Liegengebliebene Genehmigungsverfahren sollen jedoch dadurch verhindert werden, dass in Art. 19 Abs. 5 S. 1 Hs. 2 EuBewVO n.F. eine Genehmigungsfiktion neu aufgenommen wurde: Nach Art. 19 Abs. 5 S. 1 Hs. 2 EuBewVO n.F. kann das ersuchende Gericht nach Ablauf einer 30-Tages-Frist an die zuständige Behörde oder Zentralstelle eine Erinnerung senden. Wird diese nicht binnen 15 Tagen nach Bestätigung des Eingangs beantwortet, ist davon auszugehen, dass dem Ersuchen um unmittelbare Beweisaufnahme stattgegeben wurde.
 

2. Konsularische Vernehmung

Des Weiteren regelt Art. 21 EuBewVO n.F. erstmals die Beweisaufnahme durch Bedienstete diplomatischer oder konsularischer Vertretungen. Nach dieser Vorschrift können Mitgliedstaaten in ihren nationalen Rechtsvorschriften die Möglichkeit einer konsularischen  Beweisaufnahme in anderen Mitgliedstaaten vorsehen. Zulässig ist jedoch nur die Vernehmung von Personen, die Staatsangehörige des Staates des Prozessgerichts sind, und zwar ohne Einsatz von Zwangsmitteln. Im Grundsatz darf die Vernehmung außerdem nur in den Räumlichkeiten der diplomatischen oder konsularischen Vertretung stattfinden. Von der durch Art. 21 EuBewVO n.F. geschaffenen Möglichkeit hat der deutsche Gesetzgeber in § 1072 Nr. 3 ZPO Gebrauch gemacht.

III. Neue Regelungen der EuZustVO n.F. zur Zustellung

Ebenfalls zum 1. Juli 2022 trat die EuZustVO n.F. in Kraft, mit der der Unionsgesetzgeber einen wesentlichen Grundstein für die Digitalisierung der grenzüberschreitenden Zustellung von Schriftstücken legte.

Wesentlicher Kernaspekt der EuZustVO n.F. ist die Einführung eines dezentralen IT-Systems im Rahmen der Zustellung durch Rechtshilfe, welches genutzt werden soll, um die Übermittlung von Schriftstücken zwischen den nationalen Übermittlungs- und Empfangsstellen sowie den Zentralstellen zu beschleunigen. Als neue Form der Direktzustellung eingeführt wird erstmals die elektronische Zustellung (Art. 19 EuZustVO n.F.). Schließlich stellt die EuZustVO n.F. ihren Anwendungsbereich neu klar und nimmt Änderungen und Ergänzungen bezüglich des Rechts zur Annahme von Schriftstücken vor.
 

1. Anwendungsbereich

Zunächst enthält die EuZustVO n.F. eine Klarstellung bezüglich ihres Anwendungsbereiches: So stellt Art. 1 Abs. 1 EuZustVO n.F. nicht mehr darauf ab, ob ein Schriftstück in einen anderen Staat zur dortigen Zustellung zu „übermitteln“ ist, sondern legt den Anwendungsbereich der Verordnung explizit auf die „grenzüberschreitende Zustellung gerichtlicher und außergerichtlicher Schriftstücke“ fest. Diese Präzisierung soll es unterbinden, dass nationale Gerichte – wie in der Vergangenheit – Zustellungsfiktionen oder alternative Zustellungsmethoden allein nach nationalem Verfahrensrecht nutzen (beispielweise die Zustellung durch Anschlag an der Gerichtstafel), auch wenn der Zustellungsempfänger im EU-Ausland erreichbar ist.

Übrigens: Ist die ladungsfähige Anschrift des Empfängers nicht bekannt, verpflichtet Art. 3 lit. c EuZustVO n.F. die Mitgliedstaaten nunmehr zur Unterstützung bei Ermittlung der Anschrift.
 

2. Einrichtung eines dezentralen IT-Systems

Ein wesentlicher Aspekt der EuZustVO n.F. betrifft die Einführung eines dezentralen IT-Systems. Zu beachten ist allerdings, dass die Vorschriften bezüglich des dezentralen IT-Systems nicht zum 1. Juli 2022 in Kraft traten, sondern erst nach Erlass der notwendigen Durchführungsakte zur Anwendung gelangen sollen.

Während die Mitgliedstaaten bisher jeden „geeigneten“ Weg zur Übermittlung von Schriftstücken wählen konnten (Art. 4 Abs. 2 EuZustVO a.F.), soll fortan sämtliche Kommunikation zwischen Übermittlungs-, Empfangs- und Zentralstellen standardmäßig elektronisch stattfinden (Art. 5 Abs. 1 EuZustVO n.F.). Auf andere Übermittlungswege als das dezentrale IT-System darf nach Art. 5 Abs. 4 EuZustVO n.F. nur dann ausgewichen werden, wenn das dezentrale IT-System gestört ist oder andere außergewöhnliche Umstände vorliegen, was zum Beispiel dann der Fall sein kann, wenn es unverhältnismäßig wäre, eine umfangreiche Dokumentation zu digitalisieren.

Als Beispiel für ein solches dezentrale IT-System nennt die EuZustVO n.F. in Art. 5 Abs. 2 S. 2 EuZustVO n.F. sowie im Erwägungsgrund 10 EuZustVO n.F. die e-CODEX-Plattform (e-Justice Communication via Online Data Exchange). Dabei handelt es sich um eine Internetplattform, über die grenzüberschreitende Kommunikation zwischen den nationalen Gerichten und den Rechtssuchenden sicher und zuverlässig erfolgen kann.

Des Weiteren stellt Art. 5 Abs. 3 EuZustVO n.F. sicher, dass eine qualifizierte elektronische Signatur bzw. ein elektronisches Siegel eine eigenhändige Unterschrift oder ein Siegel ersetzen kann. Nach dieser Vorschrift können nämlich in den Fällen, in denen bei den über das dezentrale IT-System übermittelten Dokumente ein Siegel oder eine eigenhändige Unterschrift erforderlich ist, stattdessen elektronische Siegel oder qualifizierte elektronische Signaturen im Sinne der VO (EU) Nr. 910/2014 verwendet werden.  
 

3. Elektronische Zustellung

Als neue Form der Direktzustellung eingeführt wird durch die EuZustVO n.F. erstmals die elektronische Zustellung (Art. 19 EuZustVO n.F.). Die genannte Vorschrift sieht vor, dass die nach dem Recht des Forummitgliedstaats für inländische Zustellungen vorgesehenen Verfahren der elektronischen Zustellung auch für grenzüberschreitende Zustellungen genutzt werden können, wenn eine der nachfolgenden Voraussetzungen in Art. 19 Abs. 1 lit. a und b erfüllt ist. Voraussetzung ist jedoch stets die ausdrückliche Zustimmung des Empfängers zur elektronischen Übermittlung.

Solange der Zielstaat einen qualifizierten Zustellungsdienst für die Zustellung elektronischer Einschreiben im Sinne der eIDAS-VO nutzt (Art. 19 Abs. 1 lit. a EuZustVO n.F.), kann diese Zustimmung allgemein für gerichtliche Verfahren erteilt werden.

Wird kein qualifizierter Zustellungsdienst verwendet, kommt es allein auf die ausdrückliche Zustimmung des Empfängers gegenüber dem Prozessgericht zur Versendung von E-Mails an eine bestimmte E-Mail-Adresse im konkreten Verfahren an; des Weiteren muss der Empfänger den Empfang des Schriftstückes in diesem Fall bestätigen (Art. 19 Abs. 1 lit. b EuZustVO n.F.).

Beide Varianten des Art. 19 Abs. 1 EuZustVO n.F. wollen durch das Zustimmungserfordernis mit möglichst hoher Sicherheit gewährleisten, dass der Empfänger mit gerichtlich relevanten Schriftstücken rechnet und diese auch tatsächlich zur Kenntnis nimmt.

Den Mitgliedstaaten steht es gemäß Art. 19 Abs. 2 EuZustVO n.F. außerdem frei, die zusätzlichen Bedingungen festzulegen, unter denen sie die elektronische Zustellung nach Art. 19 Abs. 1 lit. b EuZustVO n.F. zulassen, wenn nach ihrem Recht strengere Bedingungen für die elektronische Zustellung gelten oder die elektronische Zustellung per E-Mail nicht zugelassen ist.

Der deutsche Gesetzgeber hat unter Berufung darauf eine Zustellung per E-Mail in § 1068 ZPO vollständig ausgeschlossen. Ob diese nationale Regelung wirksam ist, darf aufgrund des klaren Verordnungswortlauts jedoch stark in Zweifel gezogen werden.
 

4. Verweigerung der Annahme eines Schriftstücks

Die Annahmeverweigerung aufgrund der Sprache ist ein klassischer Anwendungsfall der grenzüberschreitenden Zustellung und wurde durch die EuZustVO n.F. nicht in ihren Grundsätzen angetastet. Die Frist zur Ausübung des in Art. 12 EuZustVO n.F. geregelten Annahmeverweigerungsrecht ist jedoch auf zwei Wochen verlängert worden. Der neue Erwägungsgrund 26 der EuZustVO n.F. stellt überdies klar, dass bei Prüfung der Voraussetzungen der Annahmeverweigerung alle in der Akte enthaltenen relevanten Informationen zu berücksichtigen sind wie zum Beispiel, ob der Empfänger Schriftstücke in der betreffenden Sprache verfasst hat, ob besondere Sprachkenntnisse für den Beruf des Empfängers erforderlich sind, ob der Empfänger Staatsangehöriger des Forummitgliedstaats ist oder ob der Empfänger früher über einen längeren Zeitraum seinen Wohnsitz in diesem Mitgliedstaat hatte.

IV. Fazit

Die Neufassungen der EuBewVO sowie der EuZustVO sind ein wichtiger Schritt in Richtung Digitalisierung der grenzüberschreitenden Zustellung und Beweisaufnahme. Dennoch bleiben die Verordnungen weit hinter den Erwartungen zurück. So wird beispielsweise die EuBewVO aufgrund des Erfordernisses der Genehmigung des Aufenthaltsstaats bei unmittelbaren Beweisaufnahmen sowie dem Freiwilligkeitsvorbehalt (Art. 19 Abs. 2 EuBewVO) vielfach als zu zaghaft eingeschätzt. Die Bemühungen des Unionsgesetzgebers geben nichtsdestotrotz Grund zur Hoffnung, dass grenzüberschreitende Zustellungen und Beweisaufnahmen künftig einfacher und schneller vonstattengehen.

Autor/in
Katharina Klenk-Wernitzki, Dipl. Reg.-Wiss

Katharina Klenk-Wernitzki, Dipl. Reg.-Wiss
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