03.04.2020

Stay home – außer in der Justiz? Die Handlungsfähigkeit der Justiz in der Corona-Krise

Hintergrund

Die aktuelle Corona-Krise stellt die Handlungsfähigkeit von Gerichten auf eine harte Probe. Der Schutz der Gesundheit von Richtern, Justizangestellten und Partei(-Vertretern) einerseits sowie die Aufrechterhaltung der Grundfunktionen der Justiz andererseits stellen einen Balanceakt dar, den es zu bewältigen gilt.

I. Aktuelle Maßnahmen der Bundesregierung, Justizbehörden und Gerichte

„Flatten the curve“ lautet – zumindest bisher – das Motto der Stunde und so auch der Bundesregierung. Seit dem 22.03.2020 gilt deshalb ein Kontaktverbot, das grundsätzlich nur noch notwendige Sozialkontakte erlaubt. Zu diesen erlaubten Sozialkontakten gehören weiterhin der Gang zur Arbeit sowie die Wahrnehmung von erforderlichen Terminen, welche nur außerhalb der eigenen vier Wände wahrgenommen werden können, also etwa der Gang der Verfahrensbeteiligten zu einer Gerichtsverhandlung. Trotzdem bestehen keine Mechanismen, die diese Situation bezogen auf Gerichte bundesweit einheitlich regeln. Zwar wurde am 27.03.2020 das Gesetz zur Abmilderung der Folgen der Covid-19-Pandemie im Zivil-, Insolvenz- und Strafverfahrensrecht beschlossen. Das Zivilverfahrensrecht erfährt dadurch jedoch keine Sonderregelungen.

Deshalb sind die Landesjustizministerien zur Eindämmung der Virusausbreitung an den Gerichten berufen. Das Justizministerium Baden-Württemberg empfahl am 16.03.2020 beispielsweise, den Dienstbetreib bei den Gerichten stark einzuschränken, nicht jedoch ganz einzustellen. Wichtige und dringende Verhandlungen und Maßnahmen – zum Beispiel Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes – sollten weiterhin stattfinden. NRW will den Dienstbetrieb grundsätzlich aufrechterhalten –  Empfehlungen des nordrheinwestfälischen  Landesjustizministeriums gehen jedoch dahin, Gerichtsverhandlungen, die einen Aufschub zulassen, zu verschieben. Im Hinblick auf die Wahrung des Öffentlichkeitsgrundsatzes soll der Publikumsverkehr in den nordrheinwestfälischen Gerichtsgebäuden nur gegenüber Personen untersagt werden, die im Verdacht einer Infizierung stehen. Ob, wann und welche Gerichtsverhandlungen tatsächlich noch stattfinden, entscheidet nach den aktuellen Vorgaben der Länder letztendlich weiterhin der zuständige Richter im Rahmen seiner richterlichen Unabhängigkeit.

Nicht weit genug gehen diese Maßnahmen dem Bundesvorsitzenden Schmidt der  Justiz-Gewerkschaft, der eine vollständige Schließung der Gerichte für mindestens zwei Wochen fordert. Dies sei notwendig, um die Gefahr einer Infizierung mit SARS-CoV-2 für die Mitarbeitenden der Gerichte und Staatsanwaltschaften abzuwenden, erklärte er gegenüber den Zeitungen der Funke-Mediengruppe (Ausgabe 18.03.2020). Der Deutsche Richterbund (DRB) hingegen betont, neben der Priorität des Gesundheitsschutzes die Notwendigkeit, einen Stillstand der Justiz als tragende Säule unseres Staates zu verhindern. Die Co-Vorsitzenden des DRB Stockinger und Lüblinghoff appellierten deshalb an die Landesjustizverwaltungen, die Abläufe in den Gerichten in enger Absprache mit den Gerichtsleitungen und Personalvertretungen durch klare Regeln zu organisieren (Pressemitteilung DRB vom 18.03.2020). In einer Presseerklärung vom 17.03.2020 hat sich auch die Bundesrechtsanwaltskammer zu Wort gemeldet und an die deutschen Gerichte appelliert, den Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälten mit größtmöglicher Flexibilität entgegenzukommen. Das beinhalte die Verlegung von Terminen, welche nicht eilbedürftig seien, sowie eine großzügige Fristensetzung und wohlwollende Fristverlängerungen.

II. „Stillstand der Rechtspflege“?

Zivilprozessual wirft die Situation der aktuell erheblich reduzierten bis kaum mehr vorhandenen Gerichtstätigkeit zunächst die Frage auf, ob man von einem Stillstand der Rechtspflege im Sinne des § 245 ZPO ausgehen kann. Ein solcher hätte eine Unterbrechung der anhängigen Verfahren nach § 249 ZPO zur Folge. Zum Schutz der Parteien würde der Lauf jeglicher Fristen gestoppt werden und erst nach Beendigung der Unterbrechung wieder von neuem zu laufen beginnen; zudem wären sowohl Handlungen der Parteien als auch grundsätzlich solche des Gerichts – wie etwa Ladungen – gegenüber der jeweils betreffenden Partei wirkungslos. Läge ein Stillstand der Rechtspflege i.S.d. § 245 ZPO vor, wäre materiell-rechtlich wohl zudem entsprechend von einer Hemmung der Verjährung wegen höherer Gewalt i.S.d. § 206 BGB auszugehen. Parteien hätten damit keine Fristversäumnisse aufgrund der gegenwärtigen Situation zu befürchten. Doch steht die Rechtspflege still?

Eine Unterbrechung durch Stillstand der Rechtspflege setzt einen allgemeinen Stillstand für einen längeren und nicht absehbaren Zeitraum voraus. Ursächlich können nach wohl allgemeiner Ansicht neben einem Krieg auch Epidemien sein, wenn diese die staatliche Organisation in ähnlichem Maße lahm legen. Ob und Dauer eines Stillstandes obliegt dabei nicht der Entscheidung des jeweiligen Gerichts. Die Unterbrechung beginnt vielmehr kraft Gesetz, sobald die Tätigkeit des zuständigen Gerichts tatsächlich aufhört und endet, sobald die Gerichtsorganisation wieder funktionsfähig ist und die Tätigkeit des Gerichts tatsächlich wieder beginnt. Einer förmlichen Wiederaufnahme bedarf es nicht. Durch diesen Automatismus ergeben sich erhebliche Unsicherheiten.

Nach aktuellem Stand dürfte jedoch nicht von einem solchen Stillstand auszugehen sein. Zu Schließungen der Gerichte infolge der Verbreitung des SARS-COV-2 ist es bislang nicht gekommen. Zwar wird der Sitzungsbetrieb teilweise ausgesetzt, nichtsdestotrotz werden Rechtsgesuche weiterhin bearbeitet, denn Richterinnen und Richter, Rechtspflegende und Mitarbeiter des Gerichts dürfen in der Regel weiterhin zur Arbeit kommen und können die schriftliche Bearbeitung der Akten auch aus dem Home Office erledigen. Auch dass mündliche Verhandlungstermine häufig nicht auf unbestimmte Zeit verschoben, sondern auf bestimmte Daten in der Zukunft verlegt werden und die Verfahren ansonsten weiterlaufen, spricht gegen die Beeinträchtigung der Rechtspflege auf eine unabsehbare Zeit und damit gegen ihren Stillstand. Ferner werden aktuell nicht nur Sachen des einstweiligen Rechtsschutzes bearbeitet, auch Hauptsacheverfahren werden noch durchgeführt. Dabei geht es nicht nur um Verfahren vor Gerichten, welche die grundsätzlich vorgeschriebene mündliche Verhandlung weiterhin wie gewohnt ansetzen und gar Aufhebungsanträge ignorieren. Vielmehr werden vermehrt auch alternative Wege – in Einklang mit den Empfehlungen – gesucht und gefunden:

III. Alternativen zur mündlichen Verhandlung

So können mündliche Verhandlungen in Durchbrechung des allgemeinen Mündlichkeitsgrundsatzes mit Zustimmung der Parteien gemäß § 128 Abs. 2 ZPO ins schriftliche Verfahren übergeleitet werden. Auch besteht die Möglichkeit, mündliche Verhandlungen gemäß § 128a ZPO per Videokonferenz durchzuführen – sofern die technische Ausstattung der Gerichte dies zulässt. Dies ist jedoch mittlerweile weit überwiegend der Fall. Gerichte und Kanzleien, die vor der Möglichkeit der Verhandlung nach § 128a ZPO bisher zurückschreckten, sollten gerade in aktuellen Zeiten überdenken, entsprechende Möglichkeiten der ZPO vermehrt zu nutzen, um im Rahmen der aktuellen Abwägung zwischen Aufrechterhaltung der Justiz und Gesundheitsschutz der Bevölkerung einen angemessen Ausgleich zu finden. Komplexe technische Mittel braucht es hierfür jedenfalls nicht (siehe hier).

Dass Gerichte den Betrieb der Rechtspflege über die Nutzung solcher Institute weiterhin im Grundsatz aufrechterhalten, dürfte auch der klare Vorrang gegenüber einem Stillstand der Rechtspflege zu geben sein, welcher nicht nur zu praktischen Rechtsunsicherheiten im Fristenlauf führen würde, sondern auch einem zeitweisen, faktischen Wegfall der Justiz. Auch gegenüber einem Festhalten an einer klassischen Verhandlung ist dies der Fall. Zwar sind auch die Prozessgrundsätze der Mündlichkeit und Öffentlichkeit der Verhandlung zu beachten. Jedoch stellt sich auch bei Durchführung klassischer mündlicher Verhandlungen jedenfalls faktisch die Frage, ob hier eine Öffentlichkeit gewahrt wird. Verschlechtert wird die Lage daher durch eine Anwendung der vorgenannten Regelungen in dieser Hinsicht also kaum. Zudem gilt die Einschränkung nur für das schriftliche Verfahren nach § 128 Abs. 2 ZPO; bei einer Verhandlung nach § 128a ZPO bleibt es nicht nur bei der Mündlichkeit. Auch die Öffentlichkeit wird, etwa durch Live-Schalten in den Gerichtssaal, gewahrt. Aktuell diskussionswürdig wäre dabei etwa auch ein Ansatz über begrenzte öffentliche Einwahldaten statt Sitzplätzen im Saal (nach aktuellem Stand noch nicht bekannt). Dies könnte eine Teilnahme umfassend sichern und mündliche Verhandlungen den aktuellen Umständen am besten anpassen.

IV. Anträge auf Fristverlängerung, Terminsverlegung und Wiedereinsetzung in den vorigen Stand

Auch wenn es aktuell zu keinem kompletten Stillstand der Rechtspflege gekommen sein mag, können zahlreiche Verfahren gleichwohl nur eingeschränkt bearbeitet werden. Dem hieraus resultierenden Schutzbedürfnis der Parteien sollte dabei über Fristverlängerungen, Terminsverlegungen und Wiedereinsetzung in den vorigen Stand entsprochen werden können, ohne dass man zu einer Anwendung des § 245 ZPO kommen muss. Umstände, wie eine Erkrankung der Parteien oder der Prozessvertreter und darauf folgende Quarantänemaßnahme oder ein Betreuungsengpass aufgrund der Schließung von Schulen und Kindertagesstätten ohne Vertretungsmöglichkeit, können erhebliche Gründe für eine Fristverlängerung, sowie das Aufheben, Verlegen oder Vertagen von Sitzungsterminen darstellen.

Dabei ist zwar einerseits das Beschleunigungsbedürfnis des konkreten Verfahrens zu berücksichtigen. Liegt ein erheblicher Grund – wie im Falle der Erkrankung einer notwendig persönlich zu erscheinenden Person – jedoch unzweifelhaft vor, so verdichtet sich das Ermessen des Gerichts zu einer Pflicht dem Antrag stattzugeben. Auch eine Erkrankung des Prozessbevollmächtigten kann eine Terminsverlegung begründen, wenn eine Vertretung, wie in § 53 BRAO vorgesehen, nicht in Betracht kommt. Auch die Pflege naher Angehöriger stellt einen erheblichen Grund im Rahmen eines Antrags zur Terminsverlegung dar. Zudem hat das Gericht wohl insbesondere Gründe des präventiven Gesundheitsschutzes in seine Abwägung einzubeziehen – denn anders ist „flatten the curve“ nicht zu erreichen. Nicht nur die Gefahrensituation der Verhandlung selbst ist dabei in Betracht zu ziehen, sondern auch die Anreise zum Termin. Trifft etwa die Zugehörigkeit zu einer Risikogruppe eines Parteivertreters mit einer hohen Infektionsraten am Ort des Gerichtsstands zusammen, dürfte ein erheblicher Grund zur Stattgabe des Antrags vorliegen.

Fraglich ist, ob gegen eine Partei, die nach einem erfolglosen Verlegungsantrag nicht zum Termin erscheint, weil sie sich dem Gesundheitsrisiko der Anreise und des Verweilens vor Ort nicht aussetzen möchte, ein Versäumnisurteil ergehen kann. Für eine schuldlose Säumnis spräche die erhebliche Eigengefährdung trotz aller Vorsichtsmaßnahmen bei Gericht, was sich anhand der stetig steigenden Infektionszahlen – und sich somit stetig verändernden Situation – belegen ließe.

Für einen Antrag auf Fristverlängerung können aktuell zahlreiche, naturgemäß individuell abweichende Gründe bestehen, so etwa die Notwendigkeit der Mitwirkung einer erkrankten oder mit der Pflege von nahen Angehörigen beschäftigten Partei, dem aktuell gestiegenen oder erschwerten Arbeitsaufkommen der Partei oder des Prozessvertreters selbst. Wird ein Widereinsetzungsantrag erforderlich, so kann darauf hingewiesen werden, dass organisatorische und personelle Engpässen das Auftreten von Fehlern stark begünstigen.

V. „CoVid-19-Ferien“?

Wie jeder andere Berufszweig, ist auch die Justiz durch die CoVid-19-Pandemie gefordert. Dabei werden aktuell teilweise Stimmen laut, die ein „Comeback“ der Gerichtsferien fordern, wie diese noch bis 1996 durch §§ 199-201 GVG a.F. geregelt waren. Der Eintritt der Gerichtsferien, jährlich vom 15. Juli bis zum 15. September, hatte damals noch zur Folge, dass Verhandlungstermine nur noch in den gesetzlich bestimmten, sogenannten Feriensachen, die sich in der Regel durch ihre Dringlichkeit auszeichneten, stattgefunden haben. Weiterhin wurden prozessuale Fristen mit Ausnahme der Notfristen und Ferienfristen gehemmt. Gerichte konnten zur Erledigung der Feriensachen sogenannten Ferienspruchkörper einrichten. Diesen Stimmen ist aus Gesundheitsschutzgründen sicherlich zuzustimmen. Auch bietet dieser Weg gegenüber einem faktischen Stillstand nach § 245 ZPO den Vorzug einer rechtsklaren Regelung der Fristen und Termine. Entgegenzuhalten ist ihnen jedoch, dass auch auf diese Art bei der Beseitigung eines Problems ein weiteres geschaffen würde. Würden – auf derzeit unabsehbar lange Zeit – Verhandlungstermine nur noch in gesetzlich bestimmten „Feriensachen“ (oder „Pandemiesachen“?) stattfinden und prozessuale Fristen (mit Ausnahme der Notfristen und Ferienfristen) gehemmt, würde die Justiz in einer Art „CoVid-19-Nachwehe“ zusammenbrechen. Zwar könnten, ähnlich der Ferienspruchkörper, CoVid-19-Spruchkörper zur Abarbeitung des erhöhten Zutrags – der durch einen Anstieg von Klagen, etwa wegen Zahlungsverzugs erwartet werden kann – eingerichtet werden. Doch fragt sich – auch vor der zeitlichen Verlagerung der Einstellung von ReferendarInnen und Abnahme von Examensprüfungen – ob dies ausreichend wäre. Ferner würde dem prozessualen Beschleunigungsgebot nicht nachgekommen werden, weshalb sich etwa der oben aufgezeigte Weg über alternative Verhandlungen anbietet. Gefordert wird dabei – auf jeder Ebene – vor allem eines – Flexibilität.

Autor/in
Dr. Stephan Bausch, D.U.

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Katharina Klenk-Wernitzki, Dipl. Reg.-Wiss

Katharina Klenk-Wernitzki, Dipl. Reg.-Wiss
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