05.08.2019

Kein Anspruch auf Herausgabe von Beweismitteln für vor der 9. GWB-Novelle entstandene Schäden

Das OLG Düsseldorf hat entschieden, dass der neue gesetzliche Anspruch gegen Kartellanten auf Herausgabe von Beweismitteln nur für solche Schadensersatzansprüche gilt, die nach dem 26. Dezember 2016 entstanden sind. Im einstweiligen Rechtsschutz kann dieser Anspruch nach Auffassung des OLG überdies nur dann erfolgreich sein, wenn das Begehren des Antragstellers dringlich ist.

Hintergrund

OLG Düsseldorf, Beschluss vom 3. April 2018 – VI-W (Kart) 2/18

Im Juli 2016 hatte die Europäische Kommission gegen mehrere europäische LKW-Hersteller Geldbußen verhängt. Gut ein Jahr später veröffentlichte sie eine nichtvertrauliche Fassung ihrer Entscheidung. Ein spanisches Unternehmen („Antragstellerin“) forderte daraufhin mehrere in Deutschland ansässige Kartellanten zur Herausgabe der vertraulichen Fassung der Bußgeldentscheidung auf, inklusive aller dort in Bezug genommener Beweismittel. Sie erhoffte sich hierdurch für die Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen nützliche Informationen. Als die Kartellanten die Herausgabe verweigerten, beantragte die Antragstellerin beim LG Köln den Erlass einer einstweiligen Verfügung. Diesen Antrag wies das LG Köln zurück. Es fehle der erforderliche Verfügungsgrund, also die Dringlichkeit. Gegen die Zurückweisung des Antrags auf einstweilige Verfügung richtete sich die Antragstellerin mit einer sofortigen Beschwerde zum OLG Düsseldorf – ebenfalls erfolglos.
 

Prozessualer Ausgangspunkt: § 89b Abs. 5 GWB

Prozessualer Ausgangspunkt ist der neue, mit der 9. GWB-Novelle eingeführte § 89b Abs. 5 GWB. Diese Norm regelt: Gegen denjenigen, dessen Verstoß gegen das deutsche oder unionsrechtliche Kartell- oder Missbrauchsverbot durch eine bindende Entscheidung der Wettbewerbsbehörde festgestellt wurde, kann das Gericht die Herausgabe dieser Entscheidung „im Wege der einstweiligen Verfügung auch ohne die Darlegung und Glaubhaftmachung der in den §§ 935 und 940 ZPO bezeichneten Voraussetzungen" anordnen, und zwar „bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 33g Abs. 1 GWB".

Jede einstweilige Verfügung – auch eine solche nach dem neuen § 89b Abs. 5 GWB – setzt das Bestehen eines Verfügungsanspruchs, hier eines Herausgabeanspruchs nach § 33g GWB, und eines Verfügungsgrunds, also der Dringlichkeit, voraus.

 

Herausgabeanspruch

Die Norm, die einen Anspruch auf Herausgabe der Bußgeldentscheidung gewährt, ist § 33g Abs. 1 GWB. Sie wurde ebenfalls durch die die 9. GWB-Novelle eingeführt: „Wer im Besitz von Beweismitteln ist, die für die Erhebung eines auf Schadensersatz gerichteten Anspruchs nach § 33a Abs. 1 erforderlich sind, ist verpflichtet, sie demjenigen herauszugeben, der glaubhaft macht, einen solchen Schadensersatzanspruch zu haben, wenn dieser die Beweismittel so genau bezeichnet, wie dies auf Grundlage der mit zumutbarem Aufwand zugänglichen Tatsachen möglich ist

Die beiden Regelungen – §§ 33g und 89b GWB – sind nur in Rechtsstreiten anzuwenden, in denen nach dem 26. Dezember 2016 Klage erhoben wurde. Das besagt § 186 Abs. 4 GWB. Das OLG Düsseldorf hatte nun zu entscheiden, ob dies so zu verstehen sei, dass eine einstweilige Verfügung nur dann in Betracht komme, wenn zumindest gleichzeitig mit dem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung zur Herausgabe von Beweismitteln auch eine Hauptsacheklage auf Schadensersatz oder auf Herausgabe von Beweismitteln erhoben wird. Das OLG verneint dies. § 186 Abs. 4 GWB diene der Umsetzung der EU-Schadensersatzrichtlinie, gemäß der die Mitgliedstaaten gewährleisten müssten, dass der neue Herausgabeanspruch keine Anwendung auf am 26. Dezember 2016 bereits anhängige Schadensersatzklagen finde. Die Richtlinie regele allerdings nicht, auf welche Art ein Herausgabeanspruch im Wege einer einstweiligen Verfügung geltend zu machen sei, also ob eine gleichzeitige Hauptsacheklage erhoben werden müsse oder nicht. Außerdem stützt sich das OLG auf §§ 936, 926 ZPO. Dort ist geregelt, dass eine einstweilige Verfügung auch vor Anhängigkeit der Hauptsacheklage beantragt werden kann.

Neben dieser Klärung liegt die praktisch wichtigste Bedeutung des OLG-Beschlusses in seinem Festhalten an der Gesetzesformulierung, der Herausgabeanspruch des § 33g GWB gelte nur für solche Beweismittel, die für die Erhebung eines Schadensersatzanspruchs nach § 33a Abs. 1 GWB erforderlich seien. Denn § 33a GWB ist gemäß § 186 Abs. 3 S. 1 GWB nur auf Schadensersatzansprüche anwendbar, die nach dem 26. Dezember 2016 entstanden sind. Ansprüche die vor diesem Zeitpunkt entstanden sind, richteten sich nach der früheren Fassung des GWB, die einen Schadensersatzanspruch in § 33 Abs. 3 GWB vorsah. Wer Schadensersatzansprüche nach diesem alten Recht geltend macht, dem hilft nach Ansicht des OLG der neue Herausgabeanspruch nicht. Das Gericht begründet dies mit dem Wortlaut des § 33g GWB, der nur § 33a GWB nenne, nicht hingegen die alte Anspruchsgrundlage für Schadensersatz. Hätte der Gesetzgeber die Anwendung des neuen Herausgabeanspruchs auf Schadensersatzansprüche nach der alten Norm gewollt, hätte er dies in § 33a GWB erwähnen können. Dem Gesetzgeber sei die Problematik der Rückbeziehung der neuen Vorschriften der 9. GWB-Novelle auf ältere Sachverhalte bewusst gewesen. Beispielsweise habe er in § 186 Abs. 3 GWB die neuen Verjährungsvorschriften für anwendbar erklärt, wenn der Anspruch am 9. Juni 2017 noch nicht verjährt war. Dies bewirke letztlich eine Rückbeziehung der Verjährungsvorschriften auf vor der 9. GWB Novelle entstandene Ansprüche. Dass der Gesetzgeber für Herausgabeansprüche keine Rückbeziehung geregelt habe, ist daher nach dem OLG kein Versehen oder Unachtsamkeit, sondern eine bewusste Entscheidung des Gesetzgebers gewesen.

Da es im Falle des LKW-Kartells um vermeintliche Schadensersatzansprüche ging, die im Zeitraum von 1997 bis 2011 entstanden waren, also auf dem alten Recht beruhen, war nach Auffassung des OLG § 33a GWB und damit auch § 33g GWB nicht anwendbar. Einen Herausgabeanspruch lehnte das OLG somit ab.

Kurz weist das OLG auch noch darauf hin, dass aufgrund des § 89b Abs. 5 GWB nur die bindende Entscheidung der Kartellbehörde, nicht aber die in Fußnoten der Entscheidung genannten Urkunden herausverlangt werden könnten.

 

Dringlichkeit

Obwohl das OLG Düsseldorf nach diesen Feststellungen die Beschwerde hätte zurückweisen können, setzt es sich vorsorglich noch mit der Dringlichkeit des Begehrens auseinander. Die Antragstellerin hatte die Auffassung vertreten, eine Dringlichkeit sei nicht notwendig, weil es in § 89b Abs. 5 GWB heiße: „… im Wege einstweiliger Verfügung auch ohne die Darlegung und Glaubhaftmachung der in den §§ 935 und 940 ZPO bezeichneten Voraussetzungen…“

Das OLG Düsseldorf sah dies so wie zuvor das LG Köln und erteilte der Auffassung der Antragstellerin eine klare Absage: § 89b Abs. 5 GWB verzichte nicht auf das Erfordernis der Dringlichkeit. Vielmehr sei die Dringlichkeit nur widerlegbar vermutet. Dies folge aus dem Wortlaut, nach dem nur die Darlegung und Glaubhaftmachung entbehrlich seien. Außerdem stellt das OLG Düsseldorf einen Vergleich mit § 12 UWG an. Diese Norm habe eine vergleichbare Formulierung und werde von der Rechtsprechung ebenfalls so ausgelegt, dass die Dringlichkeit bestehen müsse, auch wenn sie vermutet werde.

Dringlich war die Sache nach Meinung des OLG Düsseldorf und des LG Köln jedoch nicht. In der Regel dürfe ein Antragsteller nicht mehr als einen Monat warten, bevor er einen Antrag auf Einstweiligen Rechtsschutz nach § 89b Abs. 5 GWB stelle. Die Antragstellerin habe seit der Pressemitteilung der Europäischen Kommission im Juli 2016 jedoch mehr als ein Jahr gewartet, bevor sie den Herausgabeantrag gestellt hätte.

 

Ergebnisse und Ausblick

Auch wenn das Ergebnis auf den ersten Blick überrascht – der Gesetzgeber wollte mit der 9. GWB-Novelle Schadensersatzklagen erleichtern und nun soll die Erleichterung durch den Herausgabeanspruch erst für zukünftige Ansprüche und Kartelle gelten – ist die Entscheidung lehrbuchmäßig begründet und widerspricht auch nicht dem Urteil des BGH in der Sache „Grauzement II“. Dort hatte der BGH entschieden, dass die durch die 7. GWB-Novelle 2005 eingeführte Hemmung der Verjährung von Schadensersatzansprüchen während der kartellbehördlichen Ermittlungen auch auf vor 2005 entstandene Schadensersatzansprüche anwendbar ist. Dass der BGH dort einen Rückbezug bejahte, das OLG hier allerdings nicht, liegt daran, dass der Gesetzgeber in der 9. GWB-Novelle die intertemporale Anwendung differenziert geregelt und somit ausdrücklich klargestellt hat, welche Normen rückwirkend anzuwenden sind. In der 7. GWB-Novelle hatte es keine Regelung zur intertemporalen Anwendung gegeben. Dies führt nun dazu, dass der Herausgabeanspruch erst in einigen Jahren praktisch relevant werden wird, nämlich dann, wenn nach dem 26. Dezember 2016 begangene Kartellverstöße vom Bundeskartellamt oder der Europäischen Kommission bebußt sein werden. Es wäre Aufgabe des Gesetzgebers gewesen, die intertemporale Anwendbarkeit des Herausgabeanspruchs – sofern gewollt – anders zu regeln. Auch die Ausführungen des OLG zum Verfügungsgrund überzeugen. Zwar billigt das Gericht potenziellen Schadensersatzklägern in der Regel nur einen Monat, um einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung zu stellen. Dies erscheint vor dem Hintergrund der großen Komplexität von Kartellrechtsstreitigkeiten sehr kurz. Nicht vergessen werden sollte aber, dass ein Antragsteller bei Verstreichenlassen der Frist nicht schutzlos gestellt ist. Vielmehr ist es ihm unbenommen, eine Hauptsacheklage auf Herausgabe von Beweismitteln nach § 33g GWB zu erheben. Zwar dauert ein Hauptsacheverfahren länger als ein Verfahren im einstweiligen Rechtsschutz, jedoch hemmt die Klage die Verjährung des Schadensersatzanspruchs (§ 33h Abs. 6 Nr. 3 GWB).

 

 

Dr. Helmut Janssen, LL.M. (London)
Rechtsanwalt
Partner
Luther Rechtsanwaltsgesellschaft mbH
Düsseldorf
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