08.07.2019

Kartellschadensersatz: Anscheinsbeweis für Kartellbetroffenheit bei Informationsaustausch kein Selbstläufer

Seit Beginn des Jahrtausends haben die Kartellbehörden und der Gesetzgeber Kartellgeschädigte ermutigt, im Nachgang zu Bußgeldverfahren Kartellschadensersatz gegen die überführten Kartellanten geltend zu machen. Die Rechtsprechung hat, diesem Ziel folgend, überwiegend klägerfreundlich geurteilt und insbesondere in Bezug auf die Kartellbetroffenheit eines Bezugsvorgangs und den durch das Kartell verursachten Schaden Beweiserleichterungen angewendet (vgl. zuletzt BGH, Urteil vom 12. Juni 2018, Az. KZR 56/16 – Grauzement II). Das Landgericht Nürnberg-Fürth hat nun allerdings in einem viel beachteten Urteil zu Lasten der Klägerin entschieden. Diese habe nämlich nicht hinreichend dargetan, dass ihre Warenbezüge von dem im Bußgeldbescheid festgestellten Kartell betroffen gewesen seien. Landgericht Nürnberg-Fürth, Urteil vom 16. August 2018, Az. 19 O 9571/14

Background

Der Fall

Das Bundeskartellamt („Amt“) hatte Bußgelder gegen fünf Hersteller von verschiedenen Konsumgütern in Höhe von über EUR 57 Mio. wegen Beteiligung an einem wettbewerbswidrigen Informationsaustausch verhängt. Deren Vertreter, die nur zum Teil Wettbewerber auf den betroffenen Produktmärkten waren, hatten sich regelmäßig getroffen und wettbewerblich sensible Informationen ausgetauscht. Hierzu gehörten Stand und Verlauf von Jahresgespräche mit Unternehmen des Lebensmitteleinzelhandels und deren Sonderforderungen sowie gelegentlich beabsichtigte Erhöhungen von Listenpreisen. Betroffen waren unterschiedliche Produktbereiche, u.a. Schokoladenwaren, Instant- Kaffee, Tiefkühlpizza, Cerealien/Müsli, Tiernahrung sowie Waschmittel, die jeweils nur von einem Teil der Beklagten hergestellt wurden.

Gestützt auf die gegen die Beklagten ergangenen Bußgeldbescheide klagte der Lebensmitteldiscounter Norma („Klägerin“), auf Schadensersatz.
 

Die Entscheidung

Das Landgericht Nürnberg-Fürth hat die Klage erstinstanzlich vollumfänglich abgewiesen. Im Wesentlichen begründete das Gericht seine Entscheidung damit, dass die Klägerin nicht dargelegt und bewiesen habe, inwieweit die bei den bebußten Herstellern konkret bezogenen Waren „kartellbetroffen“ waren. Eine Beweiserleichterung in Form eines Anscheinsbeweises für die Kartellbetroffenheit sämtlicher von der Klägerin bei den Kartellanten bezogenen Waren komme nicht in Betracht. Vorliegend hätten die Beklagten lediglich punktuell grobe Informationen entweder ohne konkreten Produktbezug oder unter Teilnehmern unterschiedlicher Märkte ausgetauscht. Bei dieser Qualität der Absprachen spreche die Lebenserfahrung nicht für eine generelle Kartellbetroffenheit sämtlicher Warenbezüge. Ob das Kartell zu überhöhten Preise geführt habe, könne daher dahinstehen.

 

Die Analyse: Erhöhte Anforderungen an die Beweisbarkeit von Kartellschäden?

In Kartellschadensersatzprozessen gilt wie auch sonst im Zivilprozess der Grundsatz, dass der Kläger die ihm günstigen Tatsachen darlegen und beweisen muss. Dies ist auf Grund der Natur von Kartellverstößen, die regelmäßig im Verborgenen geschehen und viele Jahre zurückliegen, oftmals sehr schwierig. Daher gibt es gewisse Beweiserleichterungen für den Kläger. Hierzu gehört die vom Gesetz angeordnete Bindung von Zivilgerichten an die Feststellungen der Kartellbehörden in rechtskräfti- Kartellschadensersatz: Anscheinsbeweis für Kartellbetroffenheit bei Informationsaustausch kein Selbstläufer Seit Beginn des Jahrtausends haben die Kartellbehörden und der Gesetzgeber Kartellgeschädigte ermutigt, im Nachgang zu Bußgeldverfahren Kartellschadensersatz gegen die überführten Kartellanten geltend zu machen. Die Rechtsprechung hat, diesem Ziel folgend, überwiegend klägerfreundlich geurteilt und insbesondere in Bezug auf die Kartellbetroffenheit eines Bezugsvorgangs und den durch das Kartell verursachten Schaden Beweiserleichterungen angewendet (vgl. zuletzt BGH, Urteil vom 12. Juni 2018, Az. KZR 56/16 – Grauzement II). Das Landgericht Nürnberg-Fürth hat nun allerdings in einem viel beachteten Urteil zu Lasten der Klägerin entschieden. Diese habe nämlich nicht hinreichend dargetan, dass ihre Warenbezüge von dem im Bußgeldbescheid festgestellten Kartell betroffen gewesen seien. „„Landgericht Nürnberg-Fürth, Urteil vom 16. August 2018, Az. 19 O 9571/14 3 gen Bußgeldentscheidungen (§ 33 Abs. 4 GWB a.F., jetzt 33b GWB n.F.). Auf Grund des Bußgeldbescheids stehen Kartellverstoß und daran Beteiligte daher fest. Seine Bindungswirkung erfasst aber nur die konkret festgestellten Verstöße, nicht aber die Frage, ob ein (nicht genannter) Warenbezug Gegenstand des Kartells war bzw. ob sich das Kartell auf derartige Warenbezüge übehaupt preiserhöhend ausgewirkt hat („Kartellbetroffenheit“). Um Klägern den Nachweis der Kartellbetroffenheit ihrer Bezüge zu erleichtern, hat die Rechtsprechung (noch zur Rechtslage vor Inkrafttreten der 9. GWB-Novelle) einen Anscheinsbeweis der Kartellbetroffenheit zu Gunsten von Klägern für verschiedene Fallgruppen entwickelt.

 

Anscheinsbeweis der Kartellbetroffenheit in der Rechtsprechung

Einen solchen Anscheinsbeweis hat der BGH jüngst in seinem Urteil vom 12. Juni 2018 in einem Fall eines weitgehend flächendeckenden Gebiets- und Quotenkartells im Bereich Grauzement angenommen. Landes- und Oberlandesgerichte haben den Anscheinsbeweis auch in anderen Formen wettbewerbsbeschränkender Absprachen bejaht. Allen Absprachen war gemein, dass es sich dabei um Formen besonders schwerwiegender Verstöße handelte, bei denen die Wettbewerbsbeschränkung den Kern der Vereinbarung ausmacht („Hardcore-Verstöße“). Auf Grund der Schwere und Art des Verstoßes haben die Gerichte den Beweis des ersten Anscheins dafür angenommen, dass dieser (1) sich allgemein preissteigernd ausgewirkt hatte und (2) dass konkret alle Warenbezüge kartellbedingt überteuert waren, die sich sachlich, räumlich und zeitlich in die Kartellabsprache einfügten. Für den Fall eines allgemeinen Informationsaustauschs wurde dies aber bislang nicht entschieden.

 

LG Nürnberg-Fürth: Kein Anscheinsbeweis im vorliegenden Fall

Das Landgericht verneint die Anwendung des Anscheinsbeweises in diesem Fall. Es lässt offen, ob sich ein unspezifischer Informationsaustausch ohne konkreten Produktbezug überhaupt allgemein preissteigernd auswirken kann und stellt darauf ab, dass der betreffende Informationsaustausch jedenfalls die von der Klägerin bezogenen Waren sachlich, räumlich oder zeitlich nicht betroffen habe bzw. dies jedenfalls nicht hinreichend dargelegt sei.

So würden die unspezifischen Feststellungen in den Bußgeldbescheiden ohne Angaben zum jeweiligen Zeitpunkt und der jeweiligen prozentualen Erhöhung der Listenpreise sowie ohne Darlegung, welcher Hersteller sich bezüglich welcher Produktpalette wie geäußert habe, nichts über konkrete Beschaffungsvorgänge der Klägerin aussagen. Angekündigte Preiserhöhungen durch einzelne Beklagte hätten sich z.B. Newsletter 1. Quartal 2019 Kartellrecht 4 nicht auf die der Klägerin in Rechnung gestellten Preise auswirken können, da sie allein von dem Ankündiger Waren bezogen habe und nicht vorgetragen sei, dass und wie die anderen Hersteller sich hierzu geäußert hätten. Die Klägerin habe zudem nicht vorgetragen, ob und wann ihr (kartellbedingt erhöhte) Bruttolistenpreise durch die Beklagten übermittelt wurden. Ferner habe die Klägerin die Kartellbetroffenheit von Warenbezügen behauptet, die nicht zu den sachlich relevanten Märkten gehörten, für die Kartellrechtsverstöße festgestellt wurden. Andere Warenbezüge wiederum seien schon vor oder erst zu lange nach dem festgestellten Kartellzeitraum erfolgt, um eine (zeitliche) Kartellbetroffenheit anzunehmen. Eine Nachwirkung der Kartellabsprache über einen Zeitraum von mehr als acht Monaten sei angesichts des vorliegenden allgemeinen Informationsaustausches ohne weitergehende Mechanismen nicht zu erwarten.

 

Auswirkungen des Urteils und Fazit

Nach einer Welle eher klägerfreundlicher Urteile in allen Instanzen, ruft dieses Urteil ins Gedächtnis, dass der in der Rechtsprechung entwickelte Anscheinsbeweis für die Kartellbetroffenheit möglicherweise nicht bei jeder Form einer Kartellabsprache gleichermaßen anwendbar ist. Man darf gespannt sein, wie die nächste(n) Instanz(en) über diese sicherlich abseits der typischen Hardcore-Verstöße liegende Fallgestaltung entscheiden werden. Unabhängig davon müssen sich Kläger aber darüber im Klaren sein, dass es selbst für ein Feststellungsurteil nicht ausreicht, sich lediglich an einen Kartellbußgeldbescheid „anzuhängen“, ohne den Besonderheiten des festgestellten Verstoßes durch ihren Sachvortrag Rechnung zu tragen.

Einen Anscheinsbeweis für die Kartellbetroffenheit hat nun offenbar auch der Bundesgerichtshof mit seinem (zum Redaktionsschluss noch nicht im Volltext veröffentlichten) Urteil vom 12. Dezember 2018 (Az. KZR 26/17)) im Schienenkartell abgelehnt. Auch dieses Urteil wird daraufhin zu analysieren sein, ob der Anscheinsbeweis dort auf Grund besonderer Umstände gescheitert ist oder ob sich eine generelle Verschärfung der bisher in Kartellschadensersatzfragen angewendeten, klägerfreundlichen Maßstäbe abzeichnet. Insgesamt zeigt sich, dass auch Kartellschadensersatzprozesse keine Selbstläufer sind, sondern es – wie immer – auf die konkreten Umstände des Einzelfalls ankommt.